Die Lage in Afghanistan wird nach der kompletten Machtübernahme der Taliban von letzter Woche stetig prekärer. Das UNHCR zeigt sich über die humanitäre Lage im Land besorgt (UNHCR, 20.08.2021); gemäss UNICEF brauchen rund 18 Millionen Menschen humanitäre Hilfe (SRF, 22.08.2021). Eine Recherche von Amnesty International zeigt, dass die Taliban nach ihrer Machtübernahme der Provinz Ghazni im letzten Monat Hazara-Männer brutal ermordet haben, was an die Vergangenheit der Taliban erinnert.
In den letzten Tagen sind in der Schweiz verschiedene Forderungen hörbar geworden. Unterschiedliche Organisationen und linke Parteien fordern: Die Schweiz muss Verantwortung übernehmen und sofort reagieren (s. unten). Andere Parteien haben sich bisher zurückhaltender geäussert. «Die Mitte» kommunizierte via Twitter, sie sehe keinen Alleingang der Schweiz, sondern eine Beteiligung an einer internationalen Initiative. Die GLP fordert vom Bundesrat, «dass er sich im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz aktiv für die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen einsetzt» (NZZ vom 18.08.2021). Einig sind sich alle Stimmen nur darin, dass es Hilfe vor Ort braucht.
Humanitäre Soforthilfe vor Ort
Gemäss Schätzungen des UNHCR sind seit Anfang 2021 rund 550’000 binnenvertriebene Afghan:innen zu den über 2 Millionen Binnenvertriebenen dazugekommen. Bereits Ende 2020 lebten über 2 Millionen afghanische Geflüchtete in den Nachbarländern Pakistan und Iran (SFH, 18.08.2021). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) fordert daher, dass die Schweiz umgehend verstärkte humanitäre Hilfe vor Ort sowie in den Nachbarländern leistet und die Evakuierung von afghanischen Geflüchteten unterstützt.
Aufnahme gefährdeter Personen
Ein Appell der SP fordert die Aufnahme von 10’000 gefährdeten Menschen aus Afghanistan – über 45’000 Personen haben diesen bereits unterschrieben. Die Grünen schliessen sich dieser Forderung an; das HEKS fordert die Aufnahme von mindestens 5’000 Afghan:innen.
Die Schweiz hat drei verschiedene Instrumente, um gefährdeten Personen einen legalen und sicheren Weg in die Schweiz zu ermöglichen: Erteilung humanitärer Visa (siehe Fachbericht der SBAA «Humanitäres Visum»), Resettlement-Programm und Familienzusammenführung.
Das Recht ist allerdings komplex und die Praxis restriktiv: Gesuche für humanitäre Visa müssen schutzsuchende Personen auf einer Schweizer Botschaft beantragen – da es in Afghanistan keine solche gibt, müssen sie also erst den Weg in ein Nachbarland auf sich nehmen (siehe bspw. Fall Nr. 344). Für ein humanitäres Visum muss die betroffene Person zudem «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet» sein (Art. 4 Abs. 2 VEV). Zusätzlich ist erforderlich, dass die gesuchstellende Person einen engen Bezug zur Schweiz nachweisen kann. Die SBAA hat schon in ihrem Fachbericht 2019 u.a. gefordert, die Kriterien weniger restriktiv auszulegen. Die SBAA unterstützt daher auch die Forderung der SFH, die Erteilung humanitärer Visa zu erleichtern und zu beschleunigen und das Kriterium des aktuellen Bezugs zur Schweiz aufzuheben. Amnesty International, das HEKS sowie das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» sprechen sich ebenfalls für eine erleichterte Visa-Erteilung aus.
Im Rahmen eines pragmatischen Zugangs zu humanitären Visa fordern das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) sowie die SFH zudem, dass Gesuche auch durch Angehörige oder Kontaktpersonen in der Schweiz schriftlich zur Vorabklärung beim SEM eingereicht werden können. Besonders solange aufgrund der geschlossenen Grenzen der Zugang zu einer Schweizer Botschaft für Afghan:innen nicht möglich ist, wäre dies ein logischer und hilfreicher Schritt.
Weiter fordern die SFH sowie die Grünen die erleichterte Erteilung von Besucher-Visa für Familienangehörige von Afghan:innen, die sich bereits in der Schweiz befinden – wie es 2013 und 2015 für syrische Kriegsflüchtlinge möglich war. Damit wäre beispielsweise die Familienzusammenführung auch für Grosseltern, Geschwister oder Kinder über 18 Jahre möglich (Medienmitteilung des Bundesrats, 04.09.2013). Die SBAA unterstützt diese Forderung.
Ein weiteres Instrument, um Schutzsuchende aufzunehmen, ist das Resettlement-Programm des UNHCR. Dabei kann der Bundesrat, nebst den jährlichen Kontingenten, «im Fall einer humanitären Notlage» auch zusätzliche Aufnahmen beschliessen. Dies insbesondere dann, wenn Kantone sich aufnahmewillig zeigen (SFH, 18.08.2021). Mehrere Kantone und Städte haben sich wiederholt bereit erklärt, mehr Geflüchtete aufzunehmen (siehe SRF, 19.08.2021). Daher fordern die SFH, Amnesty International sowie das HEKS vom Bundesrat, zusätzliche Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen und dies in Zusammenarbeit mit dem UNHCR umzusetzen, sobald es möglich ist.
Aufenthaltsrecht für in der Schweiz anwesende Afghan:innen
Am 11. August 2021 wurden Rückführungen aus der Schweiz nach Afghanistan ausgesetzt, wie das SEM über Twitter kommunizierte (@semigration, 11.08.2021). Dies ist zu begrüssen, reicht aber bei weitem nicht aus. Alle erwähnten Organisationen fordern, dass alle Personen aus Afghanistan, die sich zurzeit in der Schweiz aufhalten, ein Aufenthaltsrecht – mindestens eine vorläufige Aufnahme – erhalten. Bereits weggewiesene Personen sollen Anspruch auf eine Neubeurteilung der Wegweisungsverfügung haben. Dies wird dringend nötig, da eine Rückführung nach Afghanistan zurzeit und in absehbarer Zukunft weder zumutbar noch zulässig ist. Ansonsten verletzt die Schweiz das Prinzip des «Non-Refoulements», für dessen Einhaltung sie gemäss Völkerrecht (Art. 33 GFK, Art. 3 Anti-Folterkonvention) sowie gemäss Bundesverfassung (Art. 25 BV) verpflichtet ist.
Die SBAA unterstützt die genannten Forderungen. Die Schweiz muss rasch handeln und sich besonders für Frauen, Kinder und Minderheiten einsetzen, die durch das Taliban-Regime speziell gefährdet sind. Die Schweiz muss ihre oft genannte «humanitäre Tradition» ernst nehmen. Zuwarten ist keine Option.