Ein Viertel der Menschen in der Schweiz – rund zwei Millionen Menschen – besitzt keinen Schweizer Pass (siehe Bundesamt für Statistik). Viele von ihnen sind hier geboren oder als Kinder in die Schweiz gekommen. Aufgrund der strengen Bürgerrechtsgesetzgebung und der restriktiven Einbürgerungspraxis der Behörden bleibt die Schweizer Staatsangehörigkeit aber vielen verwehrt.
Nun wollen Ständerätin Lisa Mazzone und Ständerat Paul Rechsteiner den Zugang zur Schweizer Staatsangehörigkeit für Personen erleichtern, die in der Schweiz geboren wurden oder in der zweiten Generation hier leben. Sie haben im März zwei parlamentarische Vorstösse eingereicht, die der Ständerat in der Sommersession behandeln wird (siehe auch Interview in der WOZ vom 11.03.21). Konkret fordert Paul Rechsteiner ein Recht auf die Schweizer Staatsangehörigkeit für in der Schweiz geborene Personen (Motion 21.3111). Dies entspricht dem Prinzip «ius soli». Heute gilt in der Schweiz das Prinzip «ius sanguinis», d.h. die Erteilung des Bürgerrechts aufgrund familiärer Abstammung. Lisa Mazzone fordert die erleichterte Einbürgerung für Ausländer*innen der zweiten Generation, wie sie für Ausländer*innen der dritten Generation bereits existiert (Motion 21.3112).
Der Bundesrat lehnt beide Vorstösse ab. Er ist der Ansicht, dass die heutigen Einbürgerungsverfahren der persönlichen Situation der Bewerber*innen Rechnung tragen und alle grundrechtlich relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt würden. Die Einbürgerungsverfahren für die zweite Ausländer*innen-Generation will der Bundesrat im Verantwortungs- und Regelungsbereich der Kantone und Gemeinden belassen, da sie am besten beurteilen könnten, wer die Voraussetzungen für das Schweizer Bürgerrecht erfülle (siehe Stellungnahmen des Bundesrates vom 12.05.21: Mo. 21.3111, Mo. 21.3112).
Die Arbeit der SBAA
Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) befasst sich zurzeit vertieft mit den Einbürgerungsverfahren in der Schweiz und wird Ende Jahr einen Fachbericht dazu publizieren. Sie kommt zu einer anderen Einschätzung als der Bundesrat und unterstützt die beiden Vorstösse aus den folgenden Gründen.
Recht auf Partizipation und politische Mitbestimmung
Die SBAA ist der Ansicht, dass Personen, welche in der Schweiz ihr Leben verbracht haben, sozialisiert wurden und ihren Lebensmittelpunkt haben, ein Recht auf Partizipation und politische Mitbestimmung haben sollten. Dass ein Viertel der Wohnbevölkerung auf nationaler und vielerorts auch auf kantonaler und kommunaler Ebene nicht wählen und abstimmen kann, entspricht nicht einem modernen demokratischen Staat. Je mehr Personen stimm- und wahlberechtigt sind, desto stärker sind Volksentscheide demokratisch legitimiert.
Einheitliche Regeln und weniger Hürden für die zweite Generation
Die Voraussetzungen, um überhaupt ein Einbürgerungsgesuch stellen zu können, sind hoch. So kann beispielsweise die lange Dauer, die man in einer Gemeinde wohnhaft sein muss, zum Hindernis werden, wenn jemand mehrmals umzieht, was heute oftmals die Lebensrealität ist. Kenntnisse der Landessprachen stellen eine weitere Hürden dar. So ist es aus Sicht der SBAA fragwürdig, dass in zweisprachigen Kantonen Einbürgerungsgesuche von Personen mit französischer Muttersprache abgelehnt werden, weil die Kandidat*innen über ungenügende Deutschkenntnisse verfügen. Schliesslich stellen auch die hohen Kosten für ein Einbürgerungsverfahren für viele, insbesondere junge Personen, eine Hürde dar. Die SBAA fordert, dass diese hohen Hürden – zumindest für die zweite Generation – abgebaut werden.
Die Argumentation des Bundesrats, er wolle die Einbürgerungsverfahren für die zweite Ausländer*innen-Generation weiterhin den Kantonen und Gemeinden überlassen, stuft die SBAA als problematisch ein. Heute bestehen grosse Unterschiede in der Gesetzgebung und Praxis der Kantone und Gemeinden, was zu ungleicher Behandlung führt. Aus diesem Grund plädiert die SBAA für einheitliche Regelungen. Wäre der Bund für die erleichterte Einbürgerung der zweiten Generation zuständig, könnten die Verfahren einheitlich und somit chancengerechter ausgestaltet werden.
Ius soli: Schutz für junge Generation
Der Bundesrat hat sich dagegen ausgesprochen, dass hier geborene Personen das Schweizer Bürgerrecht erhalten sollen (Prinzip «ius soli»). Seine Argumentation vermag jedoch nicht zu überzeugen. So schreibt er: «Eine Abkehr vom Prinzip des Erwerbs des Bürgerrechts durch Abstammung oder ordentliche Einbürgerung würde dem Ziel der Steuerung der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik zuwiderlaufen» (siehe Stellungnahme des Bundesrates vom 12.05.21). Wie die WOZ ausführt, verhält es sich historisch aber gerade umgekehrt: «Das Abstammungsprinzip wurde im 19. Jahrhundert unter anderem eingeführt, um die Auswanderung zu bewältigen, nicht die Einwanderung. Der junge Bundesstaat konnte mit dem ius sanguinis die Heerscharen von Schweizer AuswanderInnen und ihre Nachkommen an sich binden, die in Übersee ihr Glück suchten und in den Kolonien Geschäfte machten» (siehe WOZ vom 20.05.21).
Die SBAA würde die Einführung des Prinzips «ius soli» begrüssen. Denn aus der Praxis sind stossende Fälle bekannt, in denen in der Schweiz geborene und/oder hier aufgewachsene Kinder und Jugendliche unverschuldet in das Heimatland ihrer Eltern weggewiesen werden. Die SBAA hat beispielsweise den Fall einer Familie dokumentiert, die aufgrund eines vergangenen Wirtschaftsdelikts des Vaters nach Indien weggewiesen wurde. Die in der Schweiz geborenen 11- und 16-jährigen Kinder sollten dabei in das Heimatland ihrer Eltern abgeschoben werden, welches sie nur aus Erzählungen und wenigen Ferienbesuchen kennen. Würde in der Schweiz das Prinzip «ius soli» gelten, hätten die Kinder bei Geburt den Schweizer Pass erhalten und könnten damit nicht für das Verhalten des Vaters bestraft werden (siehe Fall Nr. 375).
Die SBAA plädiert für die Annahme der beiden Vorstösse. Personen, die in der Schweiz geboren wurden und/oder hier aufgewachsen und hier zu Hause sind, sollen Anspruch auf das Schweizer Bürgerrecht haben.