Die SBAA ist im Jahr 2021 im Rahmen einer Serie anhand von ausgewählten Beispielen der Frage nachgegangen, wer in der Schweiz für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich ist. Die Serie hat gezeigt: In der Praxis sind die Zuständigkeiten oft nicht klar, die Abläufe unterschiedlich, es findet zu wenig Vernetzung unter den Akteur:innen statt. Dies obwohl die UNO-Kinderrechtskonvention klar festhält, dass alle staatlichen und privaten Akteur:innen für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich sind und das übergeordnete Kindesinteresse bei ihren Entscheidungen vorrangig berücksichtigen müssen.
Unklare Zuständigkeiten, unterschiedliche Abläufe
Die Problematik der unterschiedlichen Abläufe und Zuständigkeiten lässt sich unter anderem beobachten, wenn minderjährige Asylsuchende aus Bundesasylzentren (BAZ) verschwinden. Im Jahr 2020 waren es über 130 Kinder. Dabei sind auch die Daten, die erhoben werden, unvollständig. Diese Problematiken sind insbesondere bedeutsam, wenn man bedenkt, dass eine reale Gefahr von Ausbeutung und Kinderhandel besteht (siehe Teil 2 der Serie). Die Antwort des Bundesrates auf eine entsprechende Interpellation im Parlament dazu ist unbefriedigend und zeigt deutlichen Handlungsbedarf. Unklare Zuständigkeiten gibt es auch bei Kindswohlgefährdungen in den BAZ: So gibt es keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, wer in einem solchen Fall handeln kann oder muss. Weder das SEM, welches für das Asylverfahren zuständig ist, noch die KESB des Kantons, der Region oder der Gemeinde, in welcher das Gebäude des BAZ steht, nehmen ihre Verantwortung umfassend wahr (siehe Teil 3 der Serie).
Hinzu kommt, dass bei der Unterbringung und Betreuung von Kindern aus dem Asylbereich andere Standards gelten als bei anderen Minderjährigen. So werden Heime für unbegleitete Minderjährige teilweise von den Behörden beaufsichtigt, die für die Sicherheit oder Sozialhilfe zuständig sind (siehe Teil 1 der Serie). Auch die Betreuung ist anders geregelt: Unbegleitete minderjährige Asylsuchende haben zwar seit einiger Zeit und dank viel politischem Druck Bezugspersonen im Rahmen der Betreuung. Der Betreuungsschlüssel ist jedoch keineswegs mit regulären Kinder- und Jugendheimen vergleichbar. Für Familien und begleitete Kinder in Bundesasylzentren sowie in kantonalen Durchgangs- oder Nothilfezentren existiert kein Bezugspersonensystem, wie es aus sozialen Einrichtungen (z.B. Kinder- und Jugendheimen, Wohngruppen, Psychiatrie) bekannt ist. Damit fühlt sich auch niemand für den Informationsfluss zwischen den involvierten Akteur:innen zuständig. Dies führt dazu, dass Kinder und Familien «verloren» gehen und dadurch psychotherapeutische und psychologische Behandlungen abgebrochen werden (siehe Teil 4 der Serie).
Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses an die Schweiz
Die Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses an die Schweiz von Ende September bestätigen einige der Lücken und Mängel, welche die SBAA in ihrer Serie, am Podium zum Thema Kindeswohl im Juni 2021 sowie in ihrem Fachbericht «Vernachlässigtes Kindeswohl» identifiziert hat. So formuliert der Ausschuss spezifische Empfehlungen für die Betreuung und Unterbringung von asylsuchenden, geflüchteten, migrierten und sans-papiers Kindern (Empfehlung 43). Zudem macht der Ausschuss bereits zum zweiten Mal deutlich, dass es dringend Massnahmen zur besseren Erhebung von Daten braucht. Der Ausschuss zeigt sich besorgt darüber, dass die Erhebung und Analyse von Daten bruchstückhaft und in den verschiedenen Kantonen uneinheitlich sind. Es sei ein System auf nationaler Ebene notwendig. Dabei müsse sichergestellt werden, dass auch Daten zu vermissten, asylsuchenden, geflüchteten und migrierten Kindern, zu Kindern ohne Aufenthaltsstatus und zu Kindern von inhaftierten Eltern erhoben werden (Empfehlung 12). Ausserdem muss laut dem Ausschuss die pädiatrische Grundversorgung für alle Kinder sichergestellt werden, auch für Kinder in benachteiligten Situationen (Empfehlung 35).
Schweiz muss internationale Verpflichtungen erfüllen
Die SBAA betrachtet es als unerlässlich, dass alle Beteiligten ihre Verantwortung der UNO-Kinderrechtskonvention wahrnehmen müssen. Auf verschiedenen Ebenen braucht es Anstrengungen, um einen lückenlosen Kindesschutz zu gewährleisten. Der Informationsfluss zwischen Akteur:innen «innerhalb» sowie «ausserhalb» des Asylverfahrens muss verbessert und Zuständigkeiten müssen klar definiert werden. Die SBAA wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen aus der Kinderrechtskonvention nachkommt. Denn Kinder bleiben Kinder, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus.
Serie: Wer ist in der Schweiz für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich?
Teil 1: Übergeordnetes Kindesinteresse – Aufsicht und Verantwortung, 30.3.2021
Teil 2: Wenn Kinder aus Bundesasylzentren verschwinden, 5.7.2021
Teil 3: Kindesschutzmassnahmen in Bundesasylzentren, 20.9.2021
Teil 4: Verlorene Kinder und Familien im Asylbereich, 18.11.2021