Euro­pa kann sich nur auf Abschot­tung einigen

Ende Sep­tem­ber 2020 stell­te die EU-Kom­mis­si­on die neue Asyl­re­form vor. Durch «fle­xi­ble Soli­da­ri­tät» soll nun Einig­keit erzielt werden. 

Seit 2015 wird in Euro­pa dar­über gespro­chen, mehr Soli­da­ri­tät bei der Auf­nah­me von Geflüch­te­ten zu zei­gen. Die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on war daher bestrebt, einen ver­bind­li­chen «Ver­teil­schlüs­sel» ein­zu­füh­ren. Die Mit­glied­staa­ten soll­ten sich dem­nach dazu ver­pflich­ten, eine bestimm­te Anzahl an Geflüch­te­ten aus Regio­nen wie Grie­chen­land und Ita­li­en auf­zu­neh­men. Da sich Ungarn, Polen und Öster­reich bis­her aber par­tout wei­ger­ten, Geflüch­te­te auf­zu­neh­men, ver­sucht die EU-Kom­mis­si­on nun, die Geg­ner mit dem Kon­strukt der «fle­xi­blen Soli­da­ri­tät» umzu­stim­men (s. Echo der Zeit vom 23.9.2020).

Zwei­glei­si­ges Asylverfahren

Die jüngst vor­ge­stell­te Asyl­re­form sieht ein Zwei-Klas­sen-Asyl­sys­tem vor: Nach einem fünf­tä­gi­gen Scree­ning, in wel­chem die Iden­ti­tät, der Gesund­heits­zu­stand und die Chan­cen auf ein Blei­be­recht bestimmt wer­den sol­len, wird tria­giert. Alle asyl­su­chen­den Per­so­nen, die eine Gefahr für die Sicher­heit dar­stel­len, aus einem Land mit tie­fer Aner­ken­nungs­quo­te (unter 20%) stam­men oder die Behör­den irre­füh­ren, wer­den einem Schnell­ver­fah­ren mit meist direkt anschlies­sen­dem Abschie­bungs­ver­fah­ren zuge­teilt. Bei allen ande­ren wird ein regu­lä­res Asyl­ver­fah­ren durchgeführt.

Schon jetzt war­nen Migrationsexpert*innen von Pro Asyl vor den Schnell­ver­fah­ren: Es kön­ne wäh­rend der vor­ge­se­he­nen kur­zen Zeit von maxi­mal 12 Wochen kein fai­res Asyl­ver­fah­ren durch­ge­führt wer­den, da auf­grund der beschränk­ten Zeit kei­ne genü­gen­de Prü­fung der Asyl­grün­de mög­lich sei. Dar­über hin­aus gel­ten die Geflüch­te­ten wäh­rend des gan­zen Ver­fah­rens als «nicht ein­ge­reist» und wür­den gemäss Pro Asyl dem­nach höchst­wahr­schein­lich in einer abge­sperr­ten Tran­sit­zo­ne ver­har­ren müs­sen. Ein Ziel der euro­päi­schen Asyl­po­li­tik, die Staa­ten an der EU-Aus­sen­gren­ze zu ent­las­ten, wür­de mit die­sem Schnell­ver­fah­ren weit verfehlt.

Ledig­lich beim regu­lä­ren Asyl­ver­fah­ren besteht für die Län­der an der EU-Aus­sen­gren­ze die klei­ne Chan­ce einer Ent­las­tung: Es soll – wie bereits heu­te – auf der Grund­la­ge eines Relo­ca­ti­on-Mecha­nis­mus mög­lich sein, Antragsteller*innen umzu­sie­deln, sodass das Asyl­ver­fah­ren in einem ande­ren Mit­glied­staat fort­ge­führt wer­den kann. Gros­ser Haken dar­an ist jedoch, dass die Umset­zung die­ses Mecha­nis­mus auf­grund der «fle­xi­blen Soli­da­ri­tät» auf frei­wil­li­ger Basis erfolgt; einen bin­den­den Ver­teil­schlüs­sel gibt es indes nicht. Nur in «Kri­sen­si­tua­tio­nen» – wie im Jahr 2015 – sol­len die Mit­glied­staa­ten ver­pflich­tet wer­den, einen Bei­trag zu leis­ten. Anstel­le der Auf­nah­me von Geflüch­te­ten soll es den Staa­ten aber dann alter­na­tiv offen­ste­hen, sog. «Rück­füh­rungs-Paten­schaf­ten» zu über­neh­men. Mit die­sen Paten­schaf­ten soll dem unter Druck ste­hen­den Mit­glied­staat an der Aus­sen­gren­ze die erfor­der­li­che Unter­stüt­zung gewährt und die Rück­füh­rung von Geflüch­te­ten voll­stän­dig über­nom­men wer­den. Sofern die Rück­füh­run­gen nicht innert acht Mona­ten erfol­gen kön­nen, muss der «Paten­schafts­staat» die Geflüch­te­ten sel­ber übernehmen.

Ein Schritt in die fal­sche Richtung

Die Mit­glied­staa­ten wür­den folg­lich allein ent­schei­den kön­nen, ob sie in Kri­sen­si­tua­tio­nen Geflüch­te­te auf­neh­men wol­len oder Rück­schaf­fun­gen über­neh­men. Wie indes sicher­ge­stellt wer­den soll, dass nicht alle Staa­ten auf die Auf­nah­me von Geflüch­te­ten ver­zich­ten, ist bis jetzt unklar. Dies wird zukünf­tig ein fun­da­men­ta­les Pro­blem des Sys­tems dar­stel­len, denn die Relo­ca­ti­on-Mög­lich­keit gibt es bereits heu­te. Aber nicht nur die Schweiz schöpft ihr vor­ge­se­he­nes Kon­tin­gent nicht aus. Dar­über hin­aus kön­nen Per­so­nen, die via Relo­ca­ti­on in die Schweiz ein­rei­sen, nicht sicher sein, dass sie auch blei­ben dür­fen. Dies zeigt sich an einem doku­men­tier­ten Fall der SBAA (Fallnr. 346).

Die neue Asyl­re­form und die Schweiz

Bun­des­rä­tin Karin Kel­ler-Sut­ter begrüsst den Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on, da sie der Stoss­rich­tung des Bun­des­rats ent­spre­che. Der Bun­des­rat habe schon immer auf einen bes­se­ren Schutz der Aus­sen­gren­zen, effi­zi­en­te­re Ver­fah­ren und eine gemein­sa­me Rück­kehr­po­li­tik bestan­den (s. Inter­view SRF). Die SBAA sieht dies äus­serst kri­tisch, da sie befürch­tet, dass neben ande­ren euro­päi­schen Staa­ten auch die Schweiz ohne ver­bind­li­chen Ver­teil­schlüs­sel ihre Ver­ant­wor­tung wei­ter­hin nur unge­nü­gend wahr­neh­men wird.

Bis­lang ist noch nicht geklärt, wie sich die Asyl­re­form defi­ni­tiv auf die Schweiz aus­wirkt. Fakt ist, dass dadurch das Dub­lin-Sys­tem tief­grei­fend refor­miert wür­de und die Schweiz als asso­zi­ier­tes Mit­glied die­se Ände­run­gen in ihre Gesetz­ge­bung über­neh­men müss­te. Die­se Über­nah­me ins Lan­des­recht wür­de wahr­schein­lich zu einer Volks­ab­stim­mung füh­ren (s. Arti­kel in der NZZ vom 25.9.2020).

Der EU-Migra­ti­ons­pakt scheint bereits geschei­tert: Eine wei­te­re Chan­ce, es rich­tig zu machen

Damit der EU-Migra­ti­ons­pakt in der oben beschrie­be­nen Form in Kraft tre­ten kann, müs­sen das EU-Par­la­ment und die Mit­glied­staa­ten zustim­men. Dies dürf­te unmög­lich zu errei­chen sein, da sich bereits Öster­reich, Ungarn und Tsche­chi­en gegen den Pakt gestellt und mit­ge­teilt haben, dass sie die neue Migra­ti­ons­po­li­tik nicht unter­stüt­zen wer­den. Vor allem Ungarn und Tsche­chi­en plä­die­ren dafür, die ille­ga­le Ein­rei­se nach Euro­pa voll­stän­dig zu unter­bin­den und in Län­dern wie Liby­en oder Syri­en Hot­spot-Zen­tren ein­zu­rich­ten (s. Bei­trag der taz vom 24.9.2020).

Die SBAA steht dem geplan­ten EU-Migra­ti­ons­pakt skep­tisch gegen­über, sieht aber in den Dis­kus­sio­nen auch eine Chan­ce für eine ech­te und soli­da­ri­sche Hal­tung im Han­deln der betei­lig­ten Staa­ten (s. Posi­ti­ons­pa­pier der SFH vom 28. August 2020). Die SBAA for­dert, dass die Schweiz ver­mehrt von ihren diver­sen recht­li­chen Instru­men­ten Gebrauch macht: erleich­ter­te Ertei­lung von huma­ni­tä­ren Visa (s. Fach­be­richt SBAA), Auf­nah­me von geflüch­te­ten Min­der­jäh­ri­gen u.a. aus Grie­chen­land, Selbst­ein­tritt in Dub­lin-Fäl­len, Relo­ca­ti­on und Resett­le­ment. Die Schweiz soll sich dafür ein­set­zen, dass die lega­len Ein­rei­se­we­ge nach Euro­pa aus­ge­baut und so die Rech­te der schutz­su­chen­den Per­so­nen geschützt werden.

Wei­ter­füh­ren­de Literatur:

Pro Asyl: Posi­ti­ons­pa­pier vom 16.10.2020, Der «New Pact»: Neue Grenz­ver­fah­ren, mehr Haft, kei­ne Lösung alter Probleme

Radio RaBe: Bei­trag vom 6.10.2020, Offi­zi­el­le Schweiz begrüsst neu­en EU-Migrationspakt

WOZ: Arti­kel vom 1.10.2020, Wenn Staa­ten Aus­schaf­fun­gen sponsern