Men­schen­un­wür­di­ges Leben am Ran­de der Gesellschaft

Im 2019 bezo­gen fast 6‘800 Per­so­nen Not­hil­fe. Dadurch leben sie meist ohne Aus­sicht auf Bes­se­rung unter höchst pre­kä­ren Bedingungen. 

Was haben Men­schen mit einem nega­ti­ven Asy­l­ent­scheid, Men­schen, deren vor­läu­fi­ge Auf­nah­me auf­ge­ho­ben wor­den ist und Men­schen ohne Blei­be­recht gemäss Aus­län­der­recht gemein? Sie ver­fü­gen über kein Auf­ent­halts­recht und müss(t)en die Schweiz ver­las­sen. Dies ist in der Rea­li­tät nicht immer mög­lich: Bei­spiels­wei­se kön­nen Eritreer*innen wegen der Gefahr staat­li­cher Repres­sio­nen, Per­so­nen tibe­ti­scher Her­kunft auf­grund ihrer Schrif­ten­lo­sig­keit nicht in ihre Her­kunfts­län­der ausreisen.

Die Aus­ge­stal­tung des Schwei­zer Nothilferegimes

Seit dem Sozi­al­hil­fe­st­opp vor über 15 Jah­ren steht Men­schen ohne Auf­ent­halts­recht ledig­lich die grund­recht­lich ver­an­ker­te, bedin­gungs­lo­se Not­hil­fe zu (Art. 12 BV, Art. 82 Abs. 4 AsylG). Die­se beinhal­tet Obdach, Nah­rung, Klei­dung und eine ele­men­ta­re medi­zi­ni­sche Hil­fe in Not­fäl­len. Die Not­hil­fe ent­spricht rund einem Vier­tel des Exis­tenz­mi­ni­mums der Sozi­al­hil­fe. Die Betrof­fe­nen erhal­ten je nach Kan­ton 8.- bis 12.- Fran­ken pro Tag. Da die Not­hil­fe in den Kom­pe­tenz­be­reich der Kan­to­ne fällt (Art. 80a AsylG), gibt es trotz den Emp­feh­lun­gen der SODK immense kan­to­na­le Unter­schie­de. Dies zeigt sich z.B. bei der Unter­brin­gung: So über­nach­ten Not­hil­fe­be­zie­hen­de je nach Kan­ton in Not­schlaf­stel­len, die sie tags­über räu­men müs­sen, in unter­ir­di­schen Bun­kern ohne Tages­licht, in abge­le­ge­nen Rück­kehr­zen­tren oder in Woh­nun­gen der Sozialhilfe.

Aus­wir­kun­gen auf psy­chi­sche und kör­per­li­che Gesundheit

Nothilfebezüger*innen ist es ver­bo­ten, einer Arbeit nach­zu­ge­hen; meis­tens dür­fen sie auch kei­nen Sprach­kurs oder kein Beschäf­ti­gungs­pro­gramm besu­chen (Art. 43 Abs. 2 AsylG). Damit nimmt man ihnen jeg­li­che Mög­lich­keit finan­zi­el­ler Selbst­stän­dig­keit. Es fehlt ihnen an einem struk­tu­rier­ten All­tag, der Auf­bau von Kon­tak­ten zu Per­so­nen aus­ser­halb des Not­hil­fe­re­gimes ist schwie­rig. Dies führt über län­ge­re Zeit zu einer Lebens­un­zu­frie­den­heit und oft­mals zu psy­chi­schen Erkran­kun­gen. Hin­zu kommt die täg­li­che Angst: Der ille­ga­le Auf­ent­halt stellt ein Dau­er­de­likt dar und kann mehr­fach mit Bus­se oder Haft geahn­det wer­den. Da sich die Betrof­fe­nen für den Bezug von Not­hil­fe anmel­den müs­sen und die Behör­den des­halb Kennt­nis ihres Auf­ent­halts­orts haben, sind sie nicht vor behörd­li­chen Repres­sa­li­en geschützt.

Inak­zep­ta­ble Situa­ti­on für Kin­der, Fami­li­en und vul­nerable Personen

Das Not­hil­fe­sys­tem ist für alle Betrof­fe­nen inak­zep­ta­bel, insb. für Fami­li­en mit Kin­dern und für vul­nerable Per­so­nen, die beson­de­ren Schutz benö­ti­gen. Kürz­lich ver­öf­fent­lich­te Inter­views mit Wal­ter Leim­gru­ber, Prä­si­dent der Eid­ge­nös­si­schen Migra­ti­ons­kom­mis­si­on (EKM), unter­strei­chen die unhalt­ba­re Situa­ti­on («Bie­ler Tag­blatt» und «Der Bund»). Gemäss Wal­ter Leim­gru­ber pro­du­zie­ren die Behör­den – im vor­lie­gen­den Fall der Kan­ton Bern – gera­de eine «gros­se Zahl kaput­ter Kin­der». Die Kol­lek­tiv­un­ter­künf­te stel­len kei­ne ange­mes­se­ne Kin­des­um­ge­bung dar: Die Fami­li­en leben auf äus­serst engem Raum, es gibt Bewohner*innen, die psy­chi­sche Pro­ble­me haben oder gewalt­tä­tig wer­den. Die Kin­der bekom­men mit, wenn Men­schen mit­ten in der Nacht von der Poli­zei abge­holt und aus­ge­schafft wer­den. Sie leben in einem per­ma­nen­ten Angst­zu­stand, was eine kind­ge­rech­te Ent­wick­lung verhindert.

Här­te­fall­be­wil­li­gung für Not­hil­fe­be­zie­hen­de: prak­tisch unerreichbar

Für Not­hil­fe­be­zie­hen­de besteht nach 5‑jährigem Auf­ent­halt die Mög­lich­keit, ein Här­te­fall­ge­such ein­zu­rei­chen (Art. 14 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 31 VZAE). Die Vor­aus­set­zun­gen sind jedoch äus­serst streng: So muss u.a. die Iden­ti­tät offen­ge­legt wer­den, eine fort­ge­schrit­te­ne Inte­gra­ti­on vor­lie­gen und die Rechts­ord­nung stets beach­tet wor­den sein. Durch­schnitt­lich erhal­ten jähr­lich ledig­lich rund 100 Not­hil­fe­be­zie­hen­de eine Här­te­fall­be­wil­li­gung (s. Stu­die der EKM, 2019). Eine wei­te­re Hür­de besteht dar­in, dass der zustän­di­ge Kan­ton in einem ers­ten Schritt das Gesuch prüft, bevor er es allen­falls ans Staats­se­kre­ta­ri­at für Migra­ti­on (SEM) zur Zustim­mung wei­ter­lei­tet. In den letz­ten Jah­ren hat sich gezeigt, dass die Kan­to­ne die­sen Ermes­sens­spiel­raum sehr unter­schied­lich wahr­neh­men (s. Fach­be­richt der Beob­ach­tungs­stel­len, 2017). Hand­lungs­be­darf hat auch die EKM erkannt (s. Stu­die der EKM, 2019).

Bestre­bun­gen in den Kantonen

Ziel des Sozi­al­hil­fe­st­opps vor über 15 Jah­ren war es einer­seits, den län­ge­ren Ver­bleib von Aus­rei­se­pflich­ti­gen in der Schweiz weni­ger attrak­tiv zu machen und ande­rer­seits, Kos­ten im Asyl­be­reich ein­zu­spa­ren. Die­se Zie­le wur­den bis heu­te nicht erreicht. Wie eine Stu­die von Terre des hom­mes Schweiz (2020) zeigt, bezo­gen 2019 71% aller Not­hil­fe­be­zie­hen­den die­se bereits län­ger als ein Jahr, womit sie als Lang­zeit­be­zie­hen­de gel­ten. Ange­dacht ist die Not­hil­fe jedoch für einen Zeit­raum von ledig­lich drei Monaten.

In meh­re­ren Kan­to­nen gibt es Bestre­bun­gen, die Situa­ti­on von Not­hil­fe­be­zie­hen­den zu ver­bes­sern. In Genf wur­de 2017 das Pro­jekt «Opé­ra­ti­on Papy­rus» lan­ciert, um den Auf­ent­halt von Arbeits­kräf­ten zu regeln, die kei­ne Auf­ent­halts­be­wil­li­gung haben, gut inte­griert sind und seit vie­len Jah­ren im Kan­ton leben. Ins­ge­samt erhiel­ten so 2390 Per­so­nen eine Auf­ent­halts­be­wil­li­gung. Ver­schie­de­ne Städ­te sind zur­zeit dar­an, die Ein­füh­rung einer «City Card» zu prü­fen, wel­che allen Stadtbewohner*innen aus­ge­stellt wer­den soll. Ein­zel­ne Kan­to­ne wie Schaff­hau­sen oder Schwyz sind bemüht, den Schwie­rig­kei­ten des Not­hil­fe­sys­tems für alle Betei­lig­ten mit Beschäf­ti­gungs­pro­gram­men und Bil­dungs­an­ge­bo­ten aktiv etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Zudem behan­delt der Natio­nal­rat in der aktu­el­len Win­ter­ses­si­on eine Moti­on, die zum Ziel hat, dass abge­wie­se­ne Asyl­su­chen­de ihre Berufs­leh­ren been­den können.

For­de­run­gen der SBAA

Die Situa­ti­on der Nothilfebezüger*innen ist unzu­mut­bar und darf nicht miss­braucht wer­den, um Men­schen zur Aus­rei­se zu bewe­gen. Die SBAA for­dert in Anbe­tracht der hohen Anzahl an Langzeitbezüger*innen, dass von staat­li­cher Sei­te aner­kannt wird, dass der Sozi­al­hil­fe­st­opp geschei­tert ist und einer Revi­si­on bedarf. Der Besuch von Sprach­kur­sen und die Teil­nah­me an Beschäf­ti­gungs­pro­gram­men sol­len erlaubt, das Arbeits­ver­bot soll auf­ge­ho­ben werden.

Die SBAA for­dert, dass auch ande­re Kan­to­ne dem Bei­spiel von «Opé­ra­ti­on Papy­rus» fol­gen. Die Vor­aus­set­zun­gen für eine Här­te­fall­be­wil­li­gung sol­len zudem über­prüft und ver­rin­gert wer­den. Des Wei­te­ren sol­len die Kan­to­ne bei der Wei­ter­lei­tung der Gesu­che ans SEM ver­mehrt von ihrem Ermes­sens­spiel­raum Gebrauch machen.

Die Situa­ti­on von Min­der­jäh­ri­gen in den Not­hil­fe­st­ruk­tu­ren ist unhalt­bar. Die SBAA weist auch in ihrem dies­jäh­ri­gen Fach­be­richt «Ver­nach­läs­sig­tes Kin­des­wohl. Min­der­jäh­ri­ge in asyl- und aus­län­der­recht­li­chen Ver­fah­ren» dar­auf hin, dass die Behör­den das Kin­des­wohl in der Schweiz nicht prio­ri­tär berück­sich­ti­gen, obwohl sie durch die Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on dazu ver­pflich­tet sind. Für Fami­li­en muss eine kind­ge­rech­te Unter­brin­gung gewähr­leis­tet wer­den. Zudem sol­len Kin­der nicht den ille­ga­len Sta­tus ihrer Eltern «erben», son­dern einen eige­nen Sta­tus erhal­ten, wenn sie hier gebo­ren wurden.