Was haben Menschen mit einem negativen Asylentscheid, Menschen, deren vorläufige Aufnahme aufgehoben worden ist und Menschen ohne Bleiberecht gemäss Ausländerrecht gemein? Sie verfügen über kein Aufenthaltsrecht und müss(t)en die Schweiz verlassen. Dies ist in der Realität nicht immer möglich: Beispielsweise können Eritreer*innen wegen der Gefahr staatlicher Repressionen, Personen tibetischer Herkunft aufgrund ihrer Schriftenlosigkeit nicht in ihre Herkunftsländer ausreisen.
Die Ausgestaltung des Schweizer Nothilferegimes
Seit dem Sozialhilfestopp vor über 15 Jahren steht Menschen ohne Aufenthaltsrecht lediglich die grundrechtlich verankerte, bedingungslose Nothilfe zu (Art. 12 BV, Art. 82 Abs. 4 AsylG). Diese beinhaltet Obdach, Nahrung, Kleidung und eine elementare medizinische Hilfe in Notfällen. Die Nothilfe entspricht rund einem Viertel des Existenzminimums der Sozialhilfe. Die Betroffenen erhalten je nach Kanton 8.- bis 12.- Franken pro Tag. Da die Nothilfe in den Kompetenzbereich der Kantone fällt (Art. 80a AsylG), gibt es trotz den Empfehlungen der SODK immense kantonale Unterschiede. Dies zeigt sich z.B. bei der Unterbringung: So übernachten Nothilfebeziehende je nach Kanton in Notschlafstellen, die sie tagsüber räumen müssen, in unterirdischen Bunkern ohne Tageslicht, in abgelegenen Rückkehrzentren oder in Wohnungen der Sozialhilfe.
Auswirkungen auf psychische und körperliche Gesundheit
Nothilfebezüger*innen ist es verboten, einer Arbeit nachzugehen; meistens dürfen sie auch keinen Sprachkurs oder kein Beschäftigungsprogramm besuchen (Art. 43 Abs. 2 AsylG). Damit nimmt man ihnen jegliche Möglichkeit finanzieller Selbstständigkeit. Es fehlt ihnen an einem strukturierten Alltag, der Aufbau von Kontakten zu Personen ausserhalb des Nothilferegimes ist schwierig. Dies führt über längere Zeit zu einer Lebensunzufriedenheit und oftmals zu psychischen Erkrankungen. Hinzu kommt die tägliche Angst: Der illegale Aufenthalt stellt ein Dauerdelikt dar und kann mehrfach mit Busse oder Haft geahndet werden. Da sich die Betroffenen für den Bezug von Nothilfe anmelden müssen und die Behörden deshalb Kenntnis ihres Aufenthaltsorts haben, sind sie nicht vor behördlichen Repressalien geschützt.
Inakzeptable Situation für Kinder, Familien und vulnerable Personen
Das Nothilfesystem ist für alle Betroffenen inakzeptabel, insb. für Familien mit Kindern und für vulnerable Personen, die besonderen Schutz benötigen. Kürzlich veröffentlichte Interviews mit Walter Leimgruber, Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM), unterstreichen die unhaltbare Situation («Bieler Tagblatt» und «Der Bund»). Gemäss Walter Leimgruber produzieren die Behörden – im vorliegenden Fall der Kanton Bern – gerade eine «grosse Zahl kaputter Kinder». Die Kollektivunterkünfte stellen keine angemessene Kindesumgebung dar: Die Familien leben auf äusserst engem Raum, es gibt Bewohner*innen, die psychische Probleme haben oder gewalttätig werden. Die Kinder bekommen mit, wenn Menschen mitten in der Nacht von der Polizei abgeholt und ausgeschafft werden. Sie leben in einem permanenten Angstzustand, was eine kindgerechte Entwicklung verhindert.
Härtefallbewilligung für Nothilfebeziehende: praktisch unerreichbar
Für Nothilfebeziehende besteht nach 5‑jährigem Aufenthalt die Möglichkeit, ein Härtefallgesuch einzureichen (Art. 14 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 31 VZAE). Die Voraussetzungen sind jedoch äusserst streng: So muss u.a. die Identität offengelegt werden, eine fortgeschrittene Integration vorliegen und die Rechtsordnung stets beachtet worden sein. Durchschnittlich erhalten jährlich lediglich rund 100 Nothilfebeziehende eine Härtefallbewilligung (s. Studie der EKM, 2019). Eine weitere Hürde besteht darin, dass der zuständige Kanton in einem ersten Schritt das Gesuch prüft, bevor er es allenfalls ans Staatssekretariat für Migration (SEM) zur Zustimmung weiterleitet. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die Kantone diesen Ermessensspielraum sehr unterschiedlich wahrnehmen (s. Fachbericht der Beobachtungsstellen, 2017). Handlungsbedarf hat auch die EKM erkannt (s. Studie der EKM, 2019).
Bestrebungen in den Kantonen
Ziel des Sozialhilfestopps vor über 15 Jahren war es einerseits, den längeren Verbleib von Ausreisepflichtigen in der Schweiz weniger attraktiv zu machen und andererseits, Kosten im Asylbereich einzusparen. Diese Ziele wurden bis heute nicht erreicht. Wie eine Studie von Terre des hommes Schweiz (2020) zeigt, bezogen 2019 71% aller Nothilfebeziehenden diese bereits länger als ein Jahr, womit sie als Langzeitbeziehende gelten. Angedacht ist die Nothilfe jedoch für einen Zeitraum von lediglich drei Monaten.
In mehreren Kantonen gibt es Bestrebungen, die Situation von Nothilfebeziehenden zu verbessern. In Genf wurde 2017 das Projekt «Opération Papyrus» lanciert, um den Aufenthalt von Arbeitskräften zu regeln, die keine Aufenthaltsbewilligung haben, gut integriert sind und seit vielen Jahren im Kanton leben. Insgesamt erhielten so 2390 Personen eine Aufenthaltsbewilligung. Verschiedene Städte sind zurzeit daran, die Einführung einer «City Card» zu prüfen, welche allen Stadtbewohner*innen ausgestellt werden soll. Einzelne Kantone wie Schaffhausen oder Schwyz sind bemüht, den Schwierigkeiten des Nothilfesystems für alle Beteiligten mit Beschäftigungsprogrammen und Bildungsangeboten aktiv etwas entgegenzusetzen. Zudem behandelt der Nationalrat in der aktuellen Wintersession eine Motion, die zum Ziel hat, dass abgewiesene Asylsuchende ihre Berufslehren beenden können.
Forderungen der SBAA
Die Situation der Nothilfebezüger*innen ist unzumutbar und darf nicht missbraucht werden, um Menschen zur Ausreise zu bewegen. Die SBAA fordert in Anbetracht der hohen Anzahl an Langzeitbezüger*innen, dass von staatlicher Seite anerkannt wird, dass der Sozialhilfestopp gescheitert ist und einer Revision bedarf. Der Besuch von Sprachkursen und die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen sollen erlaubt, das Arbeitsverbot soll aufgehoben werden.
Die SBAA fordert, dass auch andere Kantone dem Beispiel von «Opération Papyrus» folgen. Die Voraussetzungen für eine Härtefallbewilligung sollen zudem überprüft und verringert werden. Des Weiteren sollen die Kantone bei der Weiterleitung der Gesuche ans SEM vermehrt von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen.
Die Situation von Minderjährigen in den Nothilfestrukturen ist unhaltbar. Die SBAA weist auch in ihrem diesjährigen Fachbericht «Vernachlässigtes Kindeswohl. Minderjährige in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren» darauf hin, dass die Behörden das Kindeswohl in der Schweiz nicht prioritär berücksichtigen, obwohl sie durch die Kinderrechtskonvention dazu verpflichtet sind. Für Familien muss eine kindgerechte Unterbringung gewährleistet werden. Zudem sollen Kinder nicht den illegalen Status ihrer Eltern «erben», sondern einen eigenen Status erhalten, wenn sie hier geboren wurden.