Wird jemand durch Gewalt, Täuschung, Drohung oder Nötigung angeworben, vermittelt und ausgebeutet, spricht man von Menschenhandel. Opfer von Menschenhandel befinden sich aus unterschiedlichen Gründen im Asylverfahren und werden nicht immer als solche erkannt. Anhand des Falls von «Zola» lassen sich einige Schwierigkeiten illustrieren (siehe Fallnr. 356):
Nach dem Tod ihres Ehemannes hatte «Zola» in ihrem Heimatland finanzielle Probleme. Sie konnte ein Darlehen für die Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht zurückzahlen und wurde deshalb inhaftiert. Von einem Gefängniswärter wurde sie missbraucht und vergewaltigt. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis entschloss sie sich im Jahr 2013 dazu, ihr Heimatland in Ostafrika zu verlassen, um im Ausland Geld für ihre Familie zu verdienen. Eine Arbeitsagentur vermittelte ihr gegen eine hohe Gebühr einen Job in einem arabischen Land. Um diese Gebühr überhaupt bezahlen zu können, verschuldete sich die Familie. Nach ihrer Ankunft in diesem arabischen Land wurde «Zola» zusammen mit anderen rekrutierten Frauen abgeholt und ins Büro der lokalen Arbeitsagentur gebracht. Dort wurden ihr Pass und Handy abgenommen. Entgegen ihren Erwartungen geriet sie in ein Zwangsarbeitsverhältnis und musste Tag und Nacht ihren Arbeitgeber*innen als Hausangestellte zur Verfügung stehen. «Zola» wurde ausgenutzt, erniedrigt und regelmässig misshandelt. Von ihrem niedrigen Lohn wurden weitere Vermittlungskosten abgezogen.
Klare Hinweise auf Menschenhandel ignoriert
Als «Zola» mit der arbeitgebenden Familie in der Schweiz verweilte, gelang ihr die Flucht und sie stellte hier im Juli 2015 ein Asylgesuch. In der ersten Kurzanhörung im Rahmen des Asylverfahrens (Befragung zur Person) erzählte «Zola» von Ereignissen, die auf Menschenhandel und Ausbeutung hinwiesen. Weil sie ihren Termin zur ausführlichen Anhörung verpasste, wurde ihr Asylgesuch im November 2015 vom Staatssekretariat für Migration (SEM) abgelehnt. Das SEM begründete dies damit, dass sie durch ihr Nichterscheinen ihre Mitwirkungspflicht grob verletzt habe (Art. 8 Abs. 3bis AsylG). Da keine Vollzugshindernisse vorlägen, müsse sie die Schweiz verlassen. «Zola» versuchte alles, um doch noch zu ihren Asylgründen angehört zu werden. Eine erste Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht wurde gutgeheissen, eine zweite abgelehnt. Daraufhin wurde der Wegweisungsentscheid rechtskräftig. Beinahe zeitgleich erfuhr «Zola», dass ihre Kinder und ihre Mutter in ihrem Heimatland ermordet worden waren, was bei ihr eine schwerwiegende psychische Krise auslöste. Mithilfe einer Rechtsvertretung reichte sie Ende 2016 ein zweites Asylgesuch ein. Über drei Jahre später entschied das SEM über ihr Gesuch, und sie wurde im März 2020 vorläufig aufgenommen.
Die SBAA erachtet es als besorgniserregend, dass das SEM die klaren Hinweise auf Menschenhandel während der ersten Kurzanhörung nicht richtig erkannt und entsprechend gehandelt hat. Zu diesen Hinweisen gehören unter anderem: ein Arbeitsvermittler in «Zolas» Heimatland, der von ihr eine hohe Gebühr verlangte; dass sie als Hausangestellte und nicht wie versprochen in einem anderen Sektor arbeiten musste; der um ein Vielfaches tiefere Lohn als der in Aussicht gestellte; die schwierigen Arbeitsbedingungen sowie die Pflicht, die hohe Vermittlungsgebühr zurückzahlen zu müssen. Für die SBAA ist es deshalb unhaltbar, dass das SEM «Zolas» erstes Asylgesuch lediglich wegen einem einzigen verpassten Termin ablehnte und damit den ihr zustehenden Schutz verwehrte. Seit Inkrafttreten des neuen Asylverfahrens gibt es mehr Fälle mit Verdacht auf Menschenhandel. Dies ist u.a. auf die Arbeit der Rechtsberatung zurückzuführen. Die SBAA erachtet regelmässige und umfassende Schulungen der Mitarbeitenden des SEM und weiterer Akteur*innen weiterhin als dringend notwendig, damit künftig mehr Opfer von Menschenhandel als solche erkannt werden.
Territorialitätsprinzip im Opferhilfegesetz
Die Identifizierung von Opfern von Menschenhandel im Asylverfahren bildet die erste Hürde. Weitere Schwierigkeiten bestehen im Bereich des Opferschutzes: Wer in der Schweiz Opfer von Menschenhandel wurde, hat Anspruch auf Opferhilfe gemäss dem Schweizerischen Opferhilfegesetz. Doch da im Opferhilfegesetz das Territorialitätsprinzip gilt, erhalten Personen, die im Ausland Opfer von Menschenhandel wurden, diese Leistungen nicht, wenn sie zum Zeitpunkt der Straftat keinen Wohnsitz in der Schweiz hatten. Dies steht im Widerspruch zur Europäischen Konvention gegen Menschenhandel (EKM), die für die Schweiz am 1. April 2013 in Kraft trat und sechs minimale Unterstützungsleistungen vorsieht (Art. 12 Abs. 1 EKM). Gestützt auf das Krankenversicherungsgesetz und die Nothilfe nach Art. 12 BV können Menschenhandelsopfer aktuell nur drei der sechs Minimalleistungen beanspruchen: medizinische Notversorgung sowie psychologische und materielle Hilfe. Auf die anderen drei Minimalleistungen – geeignete Unterkunft sowie Beratungs- und Übersetzungsleistungen – haben sie keinen Anspruch, da eine gesetzliche Grundlage fehlt (für weitere Informationen siehe Bericht im Auftrag der Konferenz der kantonalen SozialdirektorInnen SODK, 2018).
Wie der Fall von «Zola» und die Erläuterungen zeigen, werden Opfer von Menschenhandel im Asylverfahren zu wenig geschützt. Die SBAA unterstützt deshalb die Forderungen des Appells, der im Oktober 2019 von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) und Terre des Femmes Schweiz initiiert wurde. Das Recht und der Zugang zu spezialisierter Unterstützung ab Ankunft in der Schweiz sollen für alle Gewaltbetroffenen gelten – unabhängig von Tatort und Aufenthaltsstatus.