Mit der Filmvorführung von «Gefangene des Schicksals» am 4. September 2024 hat die SBAA im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit zum Fachbericht «Gleiche Rechte für alle?» genau diesen Zustand in den Fokus gerückt. Der Dokumentarfilm von Mehdi Sahebi begleitet Geflüchtete aus dem Iran und Afghanistan in ihrem Alltag, der von Unsicherheit, strukturellen Hürden und der Schwierigkeit geprägt ist, in der Schweiz anzukommen, obwohl sie längst hier leben.
Der Film gibt den Betroffenen eine Stimme – sensibel, beobachtend und mit Raum für Widersprüche. Im Gespräch mit Marília Mendes, Vorstandsmitglied der SBAA, gibt Mehdi Sahebi Einblick in seine Arbeitsweise, seine persönliche Motivation und in das, was bleibt, wenn die Zeit stillzustehen scheint.
Mehdi Sahebi, wie kam dieser Film zustande?
Dieser Film entstand aus einer sehr persönlichen Motivation heraus. Mit meinem ethnologischen Hintergrund habe ich bei der Gestaltung des Films ähnlich wie ein Ethnologe gearbeitet. In der Ethnologie ist es zentral, das Wesen der Dinge zu beleuchten, um ein tieferes Verständnis für Menschen und ihre Lebensrealitäten zu schaffen.
Arthur Schopenhauer sagte einmal: «Die nackte Wahrheit ist die schönste, und je einfacher ihr Ausdruck ist, desto tiefer ist der Eindruck, den sie hinterlässt.» Dieser Gedanke war für mich bei der Arbeit am Film sehr bedeutend. Nicht nur das Dokumentieren grosser, lebensverändernder Ereignisse ist wichtig, sondern auch der Blick auf die kleinen, alltäglichen Dinge. Diese oft unscheinbaren Momente offenbaren tiefe Wahrheiten über die menschliche Existenz und ermöglichen es, das Leben in seiner Gesamtheit zu verstehen.
Der Film ist ein Versuch, das Wesen der schwebenden Lebenssituationen der Protagonist:innen zu ergründen und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichten selbst zu erzählen.
Ich würde sagen, dass «Gefangene des Schicksals» an der Schnittstelle zwischen ethnografischer Forschung und einer stärker persönlichen, dokumentarischen Erzählweise steht.
Dieser Film steht aber nicht im Zusammenhang mit einem ethnologischen Forschungsprojekt.
Obwohl er nicht direkt im Rahmen eines ethnologischen Forschungsprojekts entstanden ist, könnte man dennoch sagen, dass er sich als ethnografische Forschungsarbeit verstehen lässt.
Teilnahme und Beobachtung – zwei wesentliche Methoden ethnologischer Forschung – spielten auch hier eine zentrale Rolle. Das bedeutete, dass ich mich in die Lebensrealitäten der Protagonist:innen begab und ihnen einen Raum schuf, in dem sie sich öffnen konnten.
Obwohl ich bei der Gestaltung des Films grosse Freiheit hatte – die Produzentin hatte grosses Vertrauen in mich, sodass ich ohne den üblichen Druck seitens der Produktion sieben Jahre lang an dem Projekt arbeiten konnte – war meine Herangehensweise stark von ethnologischen Prinzipien geprägt: Langzeitbeobachtung, aktive Teilnahme und eine intensive Beziehung zu den Protagonist:innen.
Der Film zeigt eine eindrückliche Nähe zu den porträtierten Personen. Wie ist diese Nähe zustande gekommen?
Die Nähe zu den porträtierten Personen entstand durch eine lange, vertrauensvolle Zusammenarbeit, die viel Geduld erforderte. Alleine zu arbeiten half mir, diese Nähe zu vertiefen. Oft verbrachte ich mehrere Tage und Nächte mit den Protagonist:innen – etwas, das mit einer Filmcrew kaum möglich gewesen wäre. Ich stellte selten direkte Fragen, sondern hörte ihnen aufmerksam zu und liess ihnen den Raum, ihre Gedanken und Gefühle in ihrem eigenen Tempo zu teilen. Diese Zurückhaltung schuf eine Atmosphäre des Vertrauens.
Für Menschen, die auf der Flucht oft traumatische Erfahrungen gemacht haben, ist Vertrauen keine Selbstverständlichkeit. Es war ein langsamer Prozess, der viel Geduld erforderte. Die Nähe im Film ist das Ergebnis dieser intensiven gemeinsamen Zeit.
Als die Protagonist:innen den fertigen Film sahen, waren ihre Reaktionen unterschiedlich. Einige empfanden es als heilsam, ihre eigenen Erfahrungen auf diese Weise dargestellt zu sehen, während andere die Authentizität und Echtheit im Film besonders mochten.
Diese Personen sind in einer Art Schwebezustand. Sie haben eine traumatische Fluchterfahrung hinter sich und warten auf eine Entscheidung, die ihre Zukunft bestimmen wird. Wie lange dauert jeweils dieser Prozess und wie gehen die Leute damit um?
Die Protagonist:innen befinden sich tatsächlich in einem Schwebezustand, der für viele Flüchtlinge oft Jahre andauert. In dieser Zeit leben sie in rechtlicher und sozialer Unsicherheit, ohne die Möglichkeit, wirklich anzukommen oder Pläne für ihre Zukunft zu machen.
Wie die Menschen mit dieser Situation umgehen, hängt stark von ihrer Persönlichkeit und ihrem Charakter ab. Manche fallen in tiefe Depressionen oder kämpfen mit intensiven Angstzuständen. Andere begegnen ihrer Lage mit Humor, indem sie über ihre Situation lachen und so einen emotionalen Ausgleich schaffen. Wieder andere suchen Trost im Alltag, indem sie Routinen etablieren oder sich an kleine, erreichbare Ziele klammern. Es gibt aber auch diejenigen, die in Resignation verfallen, sich handlungsunfähig fühlen und das Warten als eine endlose Qual erleben.
Das Trauma der Fluchterfahrung verstärkt diesen Schwebezustand oft zusätzlich. Dennoch habe ich in meinen Gesprächen mit den Protagonist:innen auch Momente der Hoffnung erlebt. Sie geben sich gegenseitig Halt, feiern kleine Erfolge und finden Wege, im Ungewissen Sinn und Zuversicht zu bewahren.
Dieser Schwebezustand ist nicht nur eine bürokratische oder rechtliche Angelegenheit, sondern auch eine zutiefst menschliche und emotionale Belastung.
Und wie war für dich, die Nähe zu diesen Menschen und ihrer schwierigen Situation zu ertragen?
Das war nicht immer leicht. Es geht jedoch nicht nur darum, als Filmemacher diese Erfahrungen zu dokumentieren, sondern auch darum, das Leid der Menschen zu empfinden, das an sich in der Welt existiert. Man muss kein Filmemacher sein, um die Last des Leids zu spüren – das Elend der Welt ist für uns alle spürbar, wenn wir die Augen dafür öffnen.
Trotz der schwierigen Situation der Personen (auffallend ist z.B. die Familie, die alles Mögliche unternimmt, um ihren kleinen Sohn nachziehen zu dürfen), fällt der Humor der Personen und des Films auf. Wie ist dieser Humor noch möglich?
Der Humor im Film – insbesondere in den Gesprächen zwischen den Figuren – ist bemerkenswert und bietet einen wichtigen Kontrast zu den schweren Themen, mit denen die Protagonist:innen konfrontiert sind. Dieser Humor ist eine kommunikative Fähigkeit, mit der die Menschen ihre traumatischen Erlebnisse aus der Vergangenheit verarbeiten und ihre gegenwärtige Situation ertragen können.
Während die melancholische Grundstimmung in vielen Szenen spürbar ist, habe ich auch oft Momente des herzlichen Lachens erlebt, insbesondere bei den jüngeren Protagonist:innen. Dieser Humor ermöglicht es ihnen, ihre Situation zu relativieren, Niederlagen anzuerkennen und trotz allem einen Funken Lebensfreude zu bewahren.
Für mich war es wichtig, diesen Humor im Film einzufangen, da er zeigt, wie stark und kreativ Menschen im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen sein können. Es sind diese Momente der Leichtigkeit, die das Publikum nicht nur berühren, sondern auch daran erinnern, dass selbst in den dunkelsten Zeiten die Fähigkeit zu lachen ein Ausdruck von Menschlichkeit bleibt.
Wie viel von diesem Film ist auch mit deiner eigenen Migrationserfahrung verbunden?
Die Verbindung zu meiner eigenen Migrationserfahrung ist bei diesem Film durchaus spürbar, wenn auch subtil. Meine persönliche Geschichte hat sicherlich meinen Blick geprägt, mit der ich die Protagonist:innen und ihre Lebensrealitäten wahrgenommen habe.
Ich wusste, wie es sich anfühlt, seine Heimat, Familie und ein gewohntes Leben zurückzulassen, um in einer fremden Umgebung von Grund auf neu zu beginnen. Diese Erfahrung hat mir geholfen, das innere Erleben meiner Protagonist:innen besser zu verstehen und somit auf ihre Geschichten einzugehen. Sie wussten, dass ich ähnliches durchlebt habe, und das schuf ein Vertrauen, das es ihnen erleichterte, sich zu öffnen.
Auch die kulturellen Gemeinsamkeiten spielten eine Rolle. Ich konnte ihre Art, Dinge auszudrücken, ihre Sprache, ihre Ängste und Hoffnungen besser einordnen. Dadurch konnte ich nicht nur als Filmemacher, sondern auch als jemand, der ihre Realität versteht, eine Brücke schlagen.
Gleichzeitig war es mir wichtig, meine eigene Geschichte nicht in den Vordergrund zu stellen. Der Fokus lag immer auf den Protagonist:innen und ihrer individuellen Erfahrung.
Hast du noch Kontakt mit den Protagonisten?
Ja, ich habe immer noch Kontakt zu den Protagonist:innen, und unsere Beziehung hat sich über die Jahre weiterentwickelt. Sie sind mittlerweile zu meinen Freunden geworden, und wir stehen regelmässig in Kontakt. Unsere Verbindung geht weit über das Filmemachen hinaus.
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Mehdi Sahebi, Ethnologe mit Schwerpunkt visuelle Ethnologie. Er wurde im Iran geboren und kam im Alter von 20 Jahren in die Schweiz. «Gefangene des Schicksals» kann bei filmingo.ch gestreamt werden.
20. Mai 2025 (mh)