Rück­stu­fung nach fast 20-jäh­ri­gem Auf­ent­halt in der Schweiz

«Ilay­das» Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung wur­de zurück­ge­stuft, weil sie wegen Betreu­ungs­ar­bei­ten kei­ner Erwerbs­tä­tig­keit nach­ge­hen konn­te. Das Gericht kor­ri­gier­te den Entscheid. 

Vor ein­ein­halb Jah­ren wur­de die Alli­anz «Armut ist kein Ver­bre­chen» ins Leben geru­fen. Die Alli­anz bezweckt, dass eine beson­ders stos­sen­de Ver­schär­fung des Aus­län­der- und Inte­gra­ti­ons­ge­set­zes (AIG) wie­der rück­gän­gig gemacht wird. Denn seit der Geset­zes­re­vi­si­on 2019 kön­nen auch Per­so­nen, die län­ger als 15 Jah­re in der Schweiz leben, auf­grund von unver­schul­de­tem Sozi­al­hil­fe­be­zug aus der Schweiz weg­ge­wie­sen wer­den. Die Alli­anz hat zudem eine gleich­lau­ten­de Peti­ti­on ver­fasst, die hier unter­schrie­ben wer­den kann.

Gerichts­ur­teil: Rück­stu­fung ist zwecklos 

Der Fall von «Ilay­da» aus der Tür­kei zeigt auf, welch gra­vie­ren­de Fol­gen die­se Geset­zes­re­vi­si­on für die betrof­fe­nen Per­so­nen haben kann (Fall 417). «Ilay­da» lebt seit fast 20 Jah­ren mit ihrer Fami­lie in der Schweiz. Bei der Ein­rei­se im Jahr 2003 erhielt sie eine Auf­ent­halts­be­wil­li­gung B, da ihrem Ehe­mann ein Jahr zuvor Asyl gewährt wor­den war. Eini­ge Jah­re spä­ter erhielt sie eine Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung C. In den fol­gen­den Jah­ren wid­me­te sie sich vor­wie­gend der Betreu­ung ihrer fünf Kin­der. Des­halb war es ihr nicht mög­lich, einer Erwerbs­tä­tig­keit nach­zu­ge­hen. Infol­ge man­geln­der finan­zi­el­ler Mit­tel sah sich die Fami­lie gezwun­gen, ab 2009 Sozi­al­hil­fe zu bezie­hen. 2018 trenn­te sich «Ilay­da» von ihrem Ehe­mann. 2020 stuf­te das Migra­ti­ons­amt «Ilay­das» Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung zurück auf eine Auf­ent­halts­be­wil­li­gung mit der Begrün­dung, sie betei­li­ge sich nicht am Wirt­schafts­le­ben (Art. 63 AIG).

Im Rah­men des Rekurs­ver­fah­rens leg­te «Ilay­das» Anwäl­tin dar, inwie­fern sie sich um ihre Inte­gra­ti­on bemüh­te. Sie habe einen Deutsch­kurs besucht, als Analpha­be­tin fiel ihr der Sprach­er­werb jedoch sehr schwer, sodass sie nur lang­sam Fort­schrit­te mach­te. Aus­ser­dem habe sie in einem Café stun­den­wei­se aus­ge­hol­fen und exter­ne Kin­der­be­treu­ung geleis­tet. Der Rekurs wur­de abge­wie­sen. Erst im Beschwer­de­ver­fah­ren beim kan­to­na­len Ver­wal­tungs­ge­richt gelang es «Ilay­da» nach­zu­wei­sen, dass der Sozi­al­hil­fe­be­zug gröss­ten­teils unver­schul­det war. Das Gericht stuf­te wie bereits die Vor­in­stan­zen die bezo­ge­ne Sozi­al­hil­fe als erheb­lich ein. Es hielt aber fest, dass die schwe­ren gesund­heit­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen sowie die feh­len­de Schul­bil­dung den Sozi­al­hil­fe­be­zug her­bei­ge­führt hat­ten. Somit sei der Sozi­al­hil­fe­be­zug unver­schul­det. Zudem sei eine Rück­stu­fung im vor­lie­gen­den Fall zweck­los, da sie sich nicht eig­ne, um die «Inte­gra­ti­ons­de­fi­zi­te» zu ver­bes­sern. Folg­lich hiess das Ver­wal­tungs­ge­richt die Beschwer­de gut und ord­ne­te an, die Ver­fü­gung zur Rück­stu­fung aufzuheben.

Geset­zes­re­vi­si­on trifft Per­so­nen in pre­kä­ren Verhältnissen

Wie im Fall von «Ilay­da» deut­lich wird, trifft die Geset­zes­re­vi­si­on Per­so­nen, die in beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen leben und ihre pre­kä­re Situa­ti­on nicht sel­ber ver­schul­det haben. Die Grün­de für die finan­zi­el­le Not kön­nen ver­schie­den sein, wie z.B. feh­len­de Schul­bil­dung, gesund­heit­li­che Beein­träch­ti­gun­gen (Fall 380 «Ardit» und Fall 412 «Sophie», Fokus «Sozi­al­hil­fe als Instru­ment der Migra­ti­ons­kon­trol­le») oder wie vor­lie­gend Betreu­ungs­auf­ga­ben. Der Fall von «Ilay­da» stellt kei­nen Ein­zel­fall dar. Die SBAA hat Kennt­nis von ver­schie­de­nen Fäl­len. Zudem berich­te­ten auch Medi­en über Fäl­le, bei­spiels­wei­se im Früh­ling 2022 über die dro­hen­de Aus­schaf­fung einer Mut­ter, die seit über 15 Jah­ren in der Schweiz lebt (s. Bei­trag Tele Basel vom 27.04.2022).

Die SBAA kri­ti­siert, dass sämt­li­chen Sozialhilfebezüger:innen ohne Schwei­zer Pass poten­zi­ell aus­län­der­recht­li­che Mass­nah­men dro­hen. All den erwähn­ten per­sön­li­chen Umstän­den muss bei der Prü­fung von all­fäl­li­gen Wider­rufs­grün­den ver­mehrt Rech­nung getra­gen wer­den (Art. 62 f. AIG). Sie for­dert, dass im Ein­zel­fall genau geprüft wird, ob eine Rück­stu­fung oder Weg­wei­sung in Anbe­tracht der Auf­ent­halts­dau­er in der Schweiz und den Reinte­gra­ti­ons­mög­lich­kei­ten im Hei­mat­land ver­hält­nis­mäs­sig ist. Die­se sich über Jah­re erstre­cken­de Pro­ze­de­re füh­ren bei den betrof­fe­nen Per­so­nen zu gros­sem Druck und Stress. Das führt teil­wei­se so weit, dass sie sich von der Sozi­al­hil­fe abmel­den oder aus Angst vor Kon­se­quen­zen gar nicht anmelden.