Nothilfe als Grundrecht und Mindeststandard
Gemäss Artikel 12 der Bundesverfassung hat jede Person, die in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, Anspruch auf Hilfe und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind (sog. Nothilfe). Die Nothilfe ist als eine Art Schwelle zu sehen, unter der ein menschenwürdiges Leben nicht mehr möglich ist. Sie ist ein grundrechtlicher nicht einschränkbarer Minimalanspruch auf Nahrung, Kleider und Unterkunft. Asylsuchende erhalten nach einem rechtskräftigen negativen Asylentscheid oder einem Wegweisungsentscheid lediglich Nothilfe. So sollen die betroffenen Personen zur Rückkehr in ihr Heimatland bewegt werden. Im Jahr 2020 lebten rund 700 Kinder und Jugendliche von solcher Nothilfe.
Hochprekäre Verhältnisse und unzumutbare Umstände
Die nun veröffentlichte EKM-Studie hält fest, dass die betroffenen Kinder und Jugendliche in der Nothilfe in hochprekären Verhältnissen leben, stark belastet und in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Sie sind alle mindestens einem unzumutbaren Umstand ausgesetzt. Die Mehrheit muss zudem deutlich länger in solchen Verhältnissen ausharren, als vom System eigentlich vorhergesehen wäre. Die räumlichen Verhältnisse in den Kollektivunterkünften würden in einem Drittel der Fälle normalerweise mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Einschreiten der KESB erfordern.
Rechtliche Einordnung
Das zusätzliche Rechtsgutachten ordnet die Ergebnisse der Studie rechtlich ein. Die Verfassenden kommen zum Schluss, dass die aktuelle Situation nicht mit der Kinderrechtskonvention in Einklang gebracht werden kann und den Anforderungen an Artikel 12 der Bundesverfassung nicht genügt. Es wird empfohlen, das Wohl des Kindes bei der Anwendung von migrationsrechtlichen Bestimmungen künftig in den Vordergrund zu stellen und die Nothilfe zeitlich zu begrenzen. Um die Entwicklung des Kindes nicht zu gefährden, sollten betroffene Kinder regulär unterrichtet werden. Auch seien Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung erforderlich. Weiter solle es möglich sein, dass die KESB vor jedem Entscheid einer Unterbringung von Kindern in der Nothilfe ein Gutachten erstellt, um das Kindeswohl im Einzelfall zu prüfen. Schliesslich wird eine Vereinheitlichung der Auslegung des Kindeswohls in den Kantonen nahegelegt, um der unterschiedlichen Ausgestaltung der kantonalen Nothilfesysteme entgegenzuwirken.
Es müssen dringend Veränderungen her!
Wir unterstützen die Empfehlungen des Gutachtens. Die SBAA hat im Jahr 2020 einen Fachbericht verfasst, der sich mit dem Kindeswohl von geflüchteten Minderjährigen befasst. Die SBAA machte bereits damals darauf aufmerksam, dass formalisierte und standardisierte Prozesse nötig sind, damit das Kindeswohl in jede migrationsrechtliche Entscheidung einfliessen kann. Bei in Nothilfe lebenden Minderjährigen müsse eine stärker zukunftsorientierte Haltung eingenommen werden, um strukturellen Beeinträchtigungen vorzubeugen und die Integration nicht unnötig zu erschweren. In einem weiteren Fachbericht «Zugang zu Bildung unabhängig vom Aufenthaltsrecht» (2021) wurde darauf aufmerksam gemacht, dass geflüchtete Kinder möglichst im regulären Schulsystem unterrichtet werden sollten, damit der Zugang zu Bildung sichergestellt ist. Die SBAA ist der Auffassung, dass die bedrückende Situation von Kindern und Jugendlichen im Nothilferegime weiterhin höchste politische Aufmerksamkeit verdient und strukturelle Veränderungen, auch auf rechtlicher Ebene, erfordert.
Bern, 2. Oktober 2024 (ls)