Vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne dür­fen ihre Fami­li­en wei­ter­hin in die Schweiz holen

In der Schweiz vor­läu­fig auf­ge­nom­me­ne Per­so­nen kön­nen wei­ter­hin ihre Fami­li­en nach­zie­hen. Dies hat der Stän­de­rat heu­te mit 20 zu 18 Stim­men bei 4 Ent­hal­tun­gen beschlos­sen. Der Stän­de­rat lehnt zwei gleich­lau­ten­de Motio­nen der SVP-Frak­ti­on und von SVP-Stän­de­rä­tin Esther Fried­li (SG) ab, die den Fami­li­en­nach­zug für vor­läu­fig auf­ge­nom­me­ne Per­so­nen ver­bie­ten woll­ten. Der Natio­nal­rat hat­te die­se zuvor angenommen.

Bedenk­li­cher poli­ti­scher Kurs

Mit dem dop­pel­ten Nein sind die Motio­nen vom Tisch. Den­noch gibt das äus­serst knap­pe Resul­tat zu den­ken. Das Recht auf Fami­li­en­le­ben ist nicht nur inter­na­tio­nal, son­dern auch in der Bun­des­ver­fas­sung ver­an­kert. Es ist ein Grund­recht, das den Mit­glie­dern der Gesell­schaft gegen­über dem Staat zusteht und sie vor unge­recht­fer­tig­ten staat­li­chen Ein­grif­fen schüt­zen soll. Ein Ver­bot des Fami­li­en­nach­zugs für in der Schweiz vor­läu­fig auf­ge­nom­me­ne Geflüch­te­te wäre ein kla­rer Ver­stoss gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK) und die Bun­des­ver­fas­sung gewe­sen und hät­te zudem Kin­der­rech­te ver­letzt. UNICEF hat in unge­wohnt deut­li­chen Wor­ten vor den Fol­gen eines sol­chen Ver­bots gewarnt.

Im poli­ti­schen Dis­kurs ist die Ten­denz zu einer zuneh­mend här­te­ren Gang­art gegen­über Geflüch­te­ten und ins­be­son­de­re vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­nen deut­lich spür­bar. Dies zei­gen auch die For­de­run­gen ein­zel­ner Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker nach einer sofor­ti­gen Rück­füh­rung der rund 28’000 in der Schweiz leben­den syri­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen, obwohl die Vor­aus­set­zun­gen für eine siche­re Rück­kehr der­zeit nicht gege­ben sind. Die­se Ent­wick­lun­gen in der Schwei­zer Poli­tik sind höchst beun­ru­hi­gend und erfor­dern die Auf­merk­sam­keit aller, die sich für rechts­staat­li­che Prin­zi­pi­en ein­set­zen. Auch in Zukunft ist mit Angrif­fen auf ver­fas­sungs­mäs­sig und inter­na­tio­nal garan­tier­te Grund- und Men­schen­rech­te zu rechnen.

Getrenn­te Familien

Die Motio­nen sind in ver­schie­de­ner Hin­sicht pro­ble­ma­tisch. Mit der Gewäh­rung der vor­läu­fi­gen Auf­nah­me aner­ken­nen die Schwei­zer Behör­den, dass eine Rück­kehr in das Her­kunfts­land für die Betrof­fe­nen – meist auf­grund lang andau­ern­der krie­ge­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen – nicht rea­li­sier­bar ist. Vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne hal­ten sich somit legal in der Schweiz auf.

Weil nur ein ein­stel­li­ger Pro­zent­satz die­ser Per­so­nen jemals in die Hei­mat zurück­keh­ren kann, bleibt die Mehr­heit lang­fris­tig in der Schweiz. Ihr Schutz­be­darf ist mit dem­je­ni­gen von aner­kann­ten Flücht­lin­gen ver­gleich­bar. Ent­ge­gen dem ver­gleich­ba­ren Schutz­be­darf ist der Sta­tus der vor­läu­fi­gen Auf­nah­me mit einer erheb­li­chen recht­li­chen Schlech­ter­stel­lung gegen­über aner­kann­ten Flücht­lin­gen ver­bun­den, ins­be­son­de­re beim Familiennachzug.

Ein Fami­li­en­le­ben im Her­kunfts­land ist für vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne auf­grund der nicht rea­li­sier­ba­ren Rück­kehr kei­ne Opti­on. Bei einem Ver­bot des Fami­li­en­nach­zugs wären vie­le Fami­li­en dau­er­haft von ihren Ange­hö­ri­gen getrennt geblie­ben. Dies ver­stösst nicht nur gegen Grund- und Men­schen­rech­te. Eine sol­che Tren­nung ist gemäss einer Fall­stu­die des Schwei­ze­ri­schen Roten Kreu­zes (SRK) auch mit enor­men psy­chi­schen Belas­tun­gen ver­bun­den. Die­se kön­nen neben den nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf die Betrof­fe­nen hohe gesell­schaft­li­che Fol­ge­kos­ten ver­ur­sa­chen. Näm­lich dann, wenn die psy­chi­sche Belas­tung die Gesund­heit so stark beein­träch­tigt, dass eine Behand­lung not­wen­dig wird und allen­falls die Auf­nah­me einer Erwerbs­tä­tig­keit ver­un­mög­licht wird.

Bereits jetzt stren­ge Voraussetzungen

Bereits heu­te gel­ten für vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne äus­serst stren­ge Vor­aus­set­zun­gen für den Fami­li­en­nach­zug. Sie müs­sen im Gegen­satz zu aner­kann­ten Flücht­lin­gen zwei Jah­re war­ten, bevor sie über­haupt ein Gesuch um Fami­li­en­nach­zug stel­len kön­nen. Erst kürz­lich wur­de die War­te­frist von drei auf zwei Jah­re ver­kürzt. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) war der Ansicht, dass eine War­te­frist von drei Jah­ren nicht mit dem Recht auf Fami­li­en­le­ben ver­ein­bar ist.

Aus­ser­dem müs­sen vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­ne über eine genü­gend gros­se Woh­nung ver­fü­gen, von der Sozi­al­hil­fe unab­hän­gig sein und dür­fen kei­ne Ergän­zungs­leis­tun­gen bezie­hen. Dies stellt die Betrof­fe­nen immer wie­der vor gros­se Pro­ble­me. Oft kön­nen sie die­se Kri­te­ri­en nach Ablauf der War­te­frist nicht sofort erfül­len. Im Urteil B.F. u.a. wur­de der Schweiz vor­ge­wor­fen, die Sozi­al­hil­fe­kri­te­ri­en zu streng anzu­wen­den, wenn der Sozi­al­hil­fe­be­zug unver­schul­det ist. Zum Bei­spiel, wenn eine Per­son wegen einer schwe­ren Krank­heit nicht arbei­ten konn­te, wenn ein allein­er­zie­hen­der Eltern­teil zusätz­li­che Betreu­ungs­pflich­ten hat­te und des­halb nicht Voll­zeit arbei­ten konn­te oder wenn jemand trotz Voll­zeit­ar­beit wegen schlech­ter Löh­ne nicht genug ver­dien­te, um sich von der Sozi­al­hil­fe zu lösen.

Berück­sich­tigt man, dass ein Asyl­ver­fah­ren bereits cir­ca zwei Jah­re dau­ert und Pro­ble­me bei der Beschaf­fung der not­wen­di­gen Doku­men­te das Ver­fah­ren oft wei­ter ver­zö­gern, kann es unter Umstän­den vie­le Jah­re gehen, bis eine Fami­lie wie­der ver­eint ist (in Ein­zel­fäl­len bis zu 9 Jah­ren). Die SBAA hat­te sich bereits im Fach­be­richt 2017 gegen die War­te­frist und für eine ange­mes­se­ne Hand­ha­bung der Sozi­al­hil­fe­kri­te­ri­en ausgesprochen.

Ver­fehl­te Debatte

Der poli­ti­sche Dis­kurs rund um die Motio­nen war geprägt von der fal­schen Annah­me, sie dien­ten der Steue­rung der Zuwan­de­rung. Tat­säch­lich wur­den im Durch­schnitt der letz­ten Jah­re auf­grund der stren­gen Bedin­gun­gen gera­de ein­mal 108 Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen von vor­läu­fig Auf­ge­nom­me­nen die Ein­rei­se bewil­ligt. Die­se Zahl ist zu vernachlässigen.

Die Mög­lich­keit des Fami­li­en­nach­zugs für vor­läu­fig auf­ge­nom­me­ne Per­so­nen führt auch nicht zu deren dau­er­haf­tem Ver­bleib in der Schweiz. Die nach­ge­zo­ge­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen erhal­ten den glei­chen Sta­tus wie die nach­zie­hen­de Per­son und erfah­ren die glei­chen recht­li­chen Nach­tei­le. Der Grund für den dau­er­haf­ten Auf­ent­halt liegt viel­mehr in der nicht rea­li­sier­ba­ren Rückkehr.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass ein sol­ches Ver­bot nur etwa 108 Per­so­nen pro Jahr betrof­fen hät­te, drängt sich der Ver­dacht auf, dass die Debat­te genutzt wur­de, um auf dem Rücken beson­ders vul­nerabler Per­so­nen «Poli­tik zu machen». Die­ser Art von Poli­tik gilt es auch in Zukunft ent­schie­den entgegenzutreten.

 

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18. Dezem­ber 2024 (ls)