Bedenklicher politischer Kurs
Mit dem doppelten Nein sind die Motionen vom Tisch. Dennoch gibt das äusserst knappe Resultat zu denken. Das Recht auf Familienleben ist nicht nur international, sondern auch in der Bundesverfassung verankert. Es ist ein Grundrecht, das den Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber dem Staat zusteht und sie vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen schützen soll. Ein Verbot des Familiennachzugs für in der Schweiz vorläufig aufgenommene Geflüchtete wäre ein klarer Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Bundesverfassung gewesen und hätte zudem Kinderrechte verletzt. UNICEF hat in ungewohnt deutlichen Worten vor den Folgen eines solchen Verbots gewarnt.
Im politischen Diskurs ist die Tendenz zu einer zunehmend härteren Gangart gegenüber Geflüchteten und insbesondere vorläufig Aufgenommenen deutlich spürbar. Dies zeigen auch die Forderungen einzelner Politikerinnen und Politiker nach einer sofortigen Rückführung der rund 28’000 in der Schweiz lebenden syrischen Staatsangehörigen, obwohl die Voraussetzungen für eine sichere Rückkehr derzeit nicht gegeben sind. Diese Entwicklungen in der Schweizer Politik sind höchst beunruhigend und erfordern die Aufmerksamkeit aller, die sich für rechtsstaatliche Prinzipien einsetzen. Auch in Zukunft ist mit Angriffen auf verfassungsmässig und international garantierte Grund- und Menschenrechte zu rechnen.
Getrennte Familien
Die Motionen sind in verschiedener Hinsicht problematisch. Mit der Gewährung der vorläufigen Aufnahme anerkennen die Schweizer Behörden, dass eine Rückkehr in das Herkunftsland für die Betroffenen – meist aufgrund lang andauernder kriegerischer Auseinandersetzungen – nicht realisierbar ist. Vorläufig Aufgenommene halten sich somit legal in der Schweiz auf.
Weil nur ein einstelliger Prozentsatz dieser Personen jemals in die Heimat zurückkehren kann, bleibt die Mehrheit langfristig in der Schweiz. Ihr Schutzbedarf ist mit demjenigen von anerkannten Flüchtlingen vergleichbar. Entgegen dem vergleichbaren Schutzbedarf ist der Status der vorläufigen Aufnahme mit einer erheblichen rechtlichen Schlechterstellung gegenüber anerkannten Flüchtlingen verbunden, insbesondere beim Familiennachzug.
Ein Familienleben im Herkunftsland ist für vorläufig Aufgenommene aufgrund der nicht realisierbaren Rückkehr keine Option. Bei einem Verbot des Familiennachzugs wären viele Familien dauerhaft von ihren Angehörigen getrennt geblieben. Dies verstösst nicht nur gegen Grund- und Menschenrechte. Eine solche Trennung ist gemäss einer Fallstudie des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) auch mit enormen psychischen Belastungen verbunden. Diese können neben den negativen Auswirkungen auf die Betroffenen hohe gesellschaftliche Folgekosten verursachen. Nämlich dann, wenn die psychische Belastung die Gesundheit so stark beeinträchtigt, dass eine Behandlung notwendig wird und allenfalls die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verunmöglicht wird.
Bereits jetzt strenge Voraussetzungen
Bereits heute gelten für vorläufig Aufgenommene äusserst strenge Voraussetzungen für den Familiennachzug. Sie müssen im Gegensatz zu anerkannten Flüchtlingen zwei Jahre warten, bevor sie überhaupt ein Gesuch um Familiennachzug stellen können. Erst kürzlich wurde die Wartefrist von drei auf zwei Jahre verkürzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) war der Ansicht, dass eine Wartefrist von drei Jahren nicht mit dem Recht auf Familienleben vereinbar ist.
Ausserdem müssen vorläufig Aufgenommene über eine genügend grosse Wohnung verfügen, von der Sozialhilfe unabhängig sein und dürfen keine Ergänzungsleistungen beziehen. Dies stellt die Betroffenen immer wieder vor grosse Probleme. Oft können sie diese Kriterien nach Ablauf der Wartefrist nicht sofort erfüllen. Im Urteil B.F. u.a. wurde der Schweiz vorgeworfen, die Sozialhilfekriterien zu streng anzuwenden, wenn der Sozialhilfebezug unverschuldet ist. Zum Beispiel, wenn eine Person wegen einer schweren Krankheit nicht arbeiten konnte, wenn ein alleinerziehender Elternteil zusätzliche Betreuungspflichten hatte und deshalb nicht Vollzeit arbeiten konnte oder wenn jemand trotz Vollzeitarbeit wegen schlechter Löhne nicht genug verdiente, um sich von der Sozialhilfe zu lösen.
Berücksichtigt man, dass ein Asylverfahren bereits circa zwei Jahre dauert und Probleme bei der Beschaffung der notwendigen Dokumente das Verfahren oft weiter verzögern, kann es unter Umständen viele Jahre gehen, bis eine Familie wieder vereint ist (in Einzelfällen bis zu 9 Jahren). Die SBAA hatte sich bereits im Fachbericht 2017 gegen die Wartefrist und für eine angemessene Handhabung der Sozialhilfekriterien ausgesprochen.
Verfehlte Debatte
Der politische Diskurs rund um die Motionen war geprägt von der falschen Annahme, sie dienten der Steuerung der Zuwanderung. Tatsächlich wurden im Durchschnitt der letzten Jahre aufgrund der strengen Bedingungen gerade einmal 108 Familienangehörigen von vorläufig Aufgenommenen die Einreise bewilligt. Diese Zahl ist zu vernachlässigen.
Die Möglichkeit des Familiennachzugs für vorläufig aufgenommene Personen führt auch nicht zu deren dauerhaftem Verbleib in der Schweiz. Die nachgezogenen Familienangehörigen erhalten den gleichen Status wie die nachziehende Person und erfahren die gleichen rechtlichen Nachteile. Der Grund für den dauerhaften Aufenthalt liegt vielmehr in der nicht realisierbaren Rückkehr.
Angesichts der Tatsache, dass ein solches Verbot nur etwa 108 Personen pro Jahr betroffen hätte, drängt sich der Verdacht auf, dass die Debatte genutzt wurde, um auf dem Rücken besonders vulnerabler Personen «Politik zu machen». Dieser Art von Politik gilt es auch in Zukunft entschieden entgegenzutreten.
Weiterführende Links:
- SBAA: Etappenerfolg beim Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Personen
- NZZ: Vorläufig Aufgenommene Personen dürfen ihre Familien weiterhin in die Schweiz holen
- SRF: Unicef warnt vor Verbot von Familiennachzug
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18. Dezember 2024 (ls)