Seit März 2019 gilt das neue und beschleunigte Asylverfahren. Zuvor eingereichte Asylgesuche werden noch nach altem Recht behandelt. Anfangs Mai 2019 waren noch gut 11‘000 altrechtliche Gesuche pendent (Medienmitteilung des SEM vom 9.5.2019). Diese reichen bis 2015 zurück. Stossend an dieser Praxis ist, dass gerade asylsuchende Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vorübergehend oder langfristig in der Schweiz bleiben werden – z.B. Menschen aus Syrien oder Afghanistan – in der Regel mehr als 2 Jahre auf ihren Entscheid warten. Laut einer Anwältin kann es aufgrund dieser langen Wartezeit schwieriger werden, einen Fall vollständig abzuklären.
„Amit“ wartete 3.5 Jahre auf eine vorläufige Aufnahme
«Amit» flüchtete aus Afghanistan und reichte im November 2015 in der Schweiz ein Asylgesuch ein. Im Juli 2016 hörte das Staatssekretariat für Migration (SEM) «Amit» vertieft zu seinen Asylgründen an. Danach hörte er während 2 Jahren und 8 Monaten nichts mehr vom SEM. Seine Anwältin schickte deshalb im März 2019 einen Brief an das Staatssekretariat. «Amit» sei schon seit 3.5 Jahren in der Schweiz. Diese Wartezeit sei unverhältnismässig lange und auch unter Berücksichtigung der hohen Arbeitslast des SEM nicht nachvollziehbar. Länger auf den Asylentscheid zu warten, sei für «Amit» unzumutbar. Im April 2019 reichte die Anwältin beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) gegen das SEM eine Beschwerde wegen Rechtsverzögerung ein. Durch die lange Wartezeit sei er psychisch angeschlagen, sozial isoliert und habe keine Privatsphäre. Kurz darauf erhielt «Amit» seinen Asylentscheid und wurde in der Schweiz vorläufig aufgenommen (dokumentierter Fall Nr. 337).
Aufgrund der Situation in Afghanistan liess sich beim Asylgesuch von «Amit» mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er eine vorläufige Aufnahme erhält. Dass er trotzdem 3.5 Jahre auf seinen Asylentscheid warten musste, ist unverhältnismässig und verletzt die allgemeinen Verfahrensgarantien (Art. 29 BV). Demnach hat jede Person Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist. Laut der Rechtsprechung des BVGer stellt die Untätigkeit des SEM während 2 Jahren eine Rechtsverzögerung und somit eine Verletzung der prozessualen Grundrechte dar (siehe Gastbeitrag von Laura Rossi auf humanrights.ch).
Grosse Unterschiede in der Dauer der Asylverfahren
Folgende Tabelle illustriert exemplarisch einige der Fälle, welche von AnwältInnen und Rechtsberatungsstellen an die SBAA weitergeleitet wurden:
Angaben zur Person | Einreise | Asylanhörung | Asylentscheid | Beschwerde |
Syrien (Familie) | Juli 2015 | Aug. 2015 | - | - |
Eritrea (1997, m) | Sept. 2015 | Juni 2017 | - | - |
Syrien (1994, m) | Nov. 2015 | Sept. 2017 | Sept. 2018 (vorläufige Aufnahme) |
- |
Afghanistan (Familie) | Dez. 2015 | Sept. 2017 | Okt. 2018 (vorläufige Aufnahme) |
Nov. 2018 |
Afghanistan (1997, m) | Dez. 2015 | März 2016 | April 2018 (vorläufige Aufnahme) |
- |
Äthiopien (1997, m) | Jan. 2016 | April 2017 | - | - |
Somalia (1999, m) | März 2016 | Dez. 2018 | März 2019 (negativ) |
Eingereicht |
Eritrea (1998, m) | April 2016 | Sept. 2016 | - | - |
Afghanistan (1987, w) | Mai 2016 | Juni 2018 | April 2019 (vorläufige Aufnahme) |
- |
Syrien (1993, m) | Juni 2016 | Aug. 2018 | - | - |
Somalia (1995, m) | Juni 2016 | Febr. 2019 | - | - |
Eritrea (1998, m) | Okt. 2016 | - | - | - |
Eritrea (1985, w) | März 2017 | Jan. 2018 | - | - |
Syrien (1995, m) | März 2017 | - | - | - |
Somalia (1997, m) | Juli 2017 | - | - | - |
Afghanistan (1983, m) | Aug. 2017 | Nov. 2017 | - | - |
Die Tabelle zeigt auf, wie stark die Verfahrensdauer und der Abstand zwischen den einzelnen Verfahrensschritten variieren. Einige werden bereits einen Monat nach ihrer Einreise zu ihren Asylgründen angehört, andere erst nach 2.5 Jahren. Die aufgelisteten Personen, welche schon im Juli und September 2015 einreisten, haben bis heute noch keinen Asylentscheid erhalten – im Gegensatz zu Personen, die erst später in der Schweiz ankamen. Wiederum andere, die zwischen 2016 und 2017 einreisten, wurden noch nicht einmal zu einer Asylanhörung vorgeladen.
Dass auch Familien so lange warten müssen, ist für die SBAA nicht haltbar. Die in der Tabelle aufgeführte afghanische Familie war im Dezember 2015 eingereist. Erst nach einer fast 2‑jährigen Wartezeit und mehreren Briefwechseln zwischen ihrer Anwältin und dem SEM wurde die Familie im September 2017 an eine Asylanhörung vorgeladen. Das Warten geht jedoch weiter: 13 Monate musste die Familie auf den Asylentscheid warten, seit 6 Monaten wartet sie nun auf das Urteil des BVGer.
Auch die in der Tabelle erfasste syrische Familie wartet: Dass sie nach fast 4 Jahren noch keinen Asylentscheid erhalten hat, ist für die SBAA unverständlich. In einem Brief ans SEM erklärt die syrische Familie, dass sie inzwischen einen Sohn und eine Tochter haben und als junge Familie „ohne jegliche Zukunftsperspektive“ leben. Die Mutter ist mittlerweile stark psychisch angeschlagen und muss Medikamente nehmen. Auch die Kinder leiden zunehmend unter dieser Situation. Während 4 Monaten konnten die Eltern einen Deutschkurs besuchen und der Familienvater konnte während wenigen Monaten arbeiten. Die weiteren 45 Monate hätten sie mit Nichtstun und Warten verbringen müssen.
Kindeswohl ungenügend berücksichtigt
Die SBAA kritisiert, dass das SEM Familien, Minderjährige und Einzelpersonen so lange warten lässt. Dadurch wird u.a. das Kindeswohl missachtet. Aufgrund der rechtlich verbindlichen Kinderrechtskonvention ist die Schweiz verpflichtet, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3 KRK). Zudem müssen die Behörden von Gesetzes wegen Asylgesuche von unbegleiteten Minderjährigen prioritär behandeln (Art. 17 Abs. 2bis AsylG). Dieser Pflicht kam das SEM im Fall eines Somaliers jedoch nicht nach, wie aus der Tabelle ersichtlich wird. Obwohl er bei seiner Ankunft minderjährig war, musste er fast 3 Jahre auf einen Asylentscheid warten.
Aufgrund der überlangen Asylverfahren sehen sich AnwältInnen und RechtsberaterInnen gezwungen, das SEM bezüglich Anhörungsterminen, der Zustellung der Entscheide und Rechtsverzögerungsbeschwerden zu kontaktieren. Aus Sicht von Laura Rossi ist es jedoch weder sinnvoll noch praktikabel, in allen Asylverfahren mit längeren Wartezeiten Rechtsverzögerungsbeschwerden einzureichen (Gastbeitrag auf humanrights.ch). Auch die SBAA vertritt die Meinung, dass es sich dabei um zusätzlichen, unnötigen administrativen Aufwand handelt. Laura Rossi fordert deshalb, dass das SEM dringend eine Praxisänderung vornehmen muss. Die SBAA unterstützt diese Forderung.
Weiterhin lange Wartezeiten trotz beschleunigtem Verfahren?
Die Behandlungsstrategie des SEM hat zum Ziel, Asylverfahren von Personen mit geringen Chancen, in der Schweiz zu bleiben, möglichst schnell abzuschliessen. Zudem verfolgt es das Prinzip „first in – first out“, die am längsten pendenten Fälle sollen also zuerst behandelt werden (Brief des SEM vom 10.12.2018 auf humanrights.ch). Die Anwältin einer im Mai 2016 eingereisten Afghanin (siehe Tabelle) schreibt jedoch in einem Brief an das SEM, dass es das Prinzip oft nicht einhalte. Ihr seien mehrere Personen bekannt, die im gleichen Zeitraum in der Schweiz ankamen, einen ähnlichen Hintergrund haben und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihren Asylentscheid erhielten. Dies sei auch bei der erwähnten Afghanin der Fall. Ihre Schwester, die gleichzeitig einreiste und grundsätzlich dieselben Asylgründe vertrete, habe ca. 4 Monate vor ihr eine vorläufige Aufnahme erhalten.
In einer Medienmitteilung vom 09.05.2019 hat das SEM seine angepasste Behandlungsstrategie und die Priorisierung der Asylgesuche veröffentlicht: Asylgesuche im beschleunigten Verfahren oder im Dublin-Verfahren werden zukünftig vorrangig erledigt. Es ist also zu befürchten, dass im neuen Asylverfahren die langen Wartezeiten für Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Schweiz bleiben werden, bestehen bleiben. Wie von Laura Rossi aufgezeigt, sind es nämlich gerade die gut begründeten Gesuche, die aufgrund ihrer Komplexität im erweiterten Verfahren behandelt werden und schon deshalb eine längere Behandlungsdauer erfordern. Die SBAA fordert deshalb, dass Asylgesuche von Personen mit guten Chancen auf ein Bleiberecht im Gegensatz zur aktuellen Praxis vorgezogen und rasch entschieden werden. Auch Gesuche von unbegleiteten Minderjährigen müssen prioritär behandelt werden.