Die direkte Demokratie stellt uns Schweizer:innen immer wieder vor komplizierte Aufgaben. Die Abstimmungsfrage tönt einfach: Übernehmen wir eine Verordnung der Europäischen Union (EU) aus dem Jahr 2019 über die Europäische Grenz- und Küstenwache? Die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache heisst «Frontex». Diese unterstützt die europäischen Staaten darin, ihre Aussengrenzen zu schützen und die Migration zu kontrollieren. Frontex ist eine mit Schiffen, Flugzeugen und Überwachungsgeräten ausgerüstete Grenzpolizei.
Worum geht es in der Verordnung? Frontex soll bis 2027 auf 10‘000 Mitarbeitende erweitert werden, wenn Bedarf besteht; 3‘000 davon sind Angestellte der Agentur, 7‘000 stellen die Mitgliedsstaaten. Die Schweiz soll sich daran mit bis zu 40 Vollzeitstellen beteiligen. Zusätzlich sollen die Betriebsbeiträge der Staaten erhöht werden, für die Schweiz von heute 24 auf 61 Millionen Franken pro Jahr (bei einem Gesamtbudget von 1,2 Milliarden). Zudem bekommt der Frontex-Grundrechtsbeauftragte neu 40 Beobachter:innen zur Seite gestellt, die vor Ort die Einsätze beaufsichtigen und bei Verstössen gegen Grundrechte Massnahmen einleiten (siehe Abstimmungsbroschüre des Bundes).
Die Befürworter:innen der Verordnung heben den Nutzen der Frontex-Aufstockung für die Schweiz hervor: Unterstützung der Grenzstaaten, vor allem von Griechenland, Italien und Spanien. Erhöhung der Sicherheit in der Schweiz. Verbesserung der Grundrechtssituation an den Grenzen. Und sie warnen davor, dass bei einem Nein ernsthaft der Verlust der Mitgliedschaft im Schengen-Raum drohe (siehe z.B. Position der FDP). Damit würden die Vorteile der gleichberechtigten Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Staaten wegfallen, u.a. im Asylwesen, in der Sicherheit, im Tourismus, im freien Reiseverkehr. Die Schweiz würde zu einer Insel. Zum Schengen-Raum gehören die meisten EU-Staaten und die EFTA-Mitglieder. Das Vertragswerk «Schengen» wurde 1985 abgeschlossen, die Schweiz gehört seit 2008 dazu.
Auch die Gegner:innen wollen nicht aus dem Schengen-Verbund aussteigen. Sie gehen indes davon aus, dass die Zusammenarbeit auch bei einem Nein fortgesetzt werden könnte und der Austritt verhandelbar sei (siehe Referendumskomitee). Diskutieren müsste man über die Höhe der finanziellen Beiträge, die Anzahl Mitarbeitenden aus dem Schweizer Grenzwachtkorps und – dies vor allem – über die Einhaltung der Menschenrechte an Europas Grenzen. Allenfalls könnte auch das Parlament die Vorlage noch einmal beraten und z.B. durch eine verstärkte Aufnahme von Geflüchteten aus Flüchtlingslagern eine innenpolitische Lösung finden (siehe Gastkommentar von Ständerat Daniel Jositsch, Tagesanzeiger vom 27.02.2022).
Die Gegner: innen kritisieren Frontex als «Komplizin bei Menschenrechtsverletzungen und illegalen ‚Pushbacks‘» und werfen der Agentur systematische Kooperation vor «mit der sogenannten libyschen Küstenwache, die massenhaft Boote abfängt und gewaltsam zurück nach Libyen schafft» (siehe Abstimmungsbroschüre des Bundes). Pushbacks beschreibt das gewaltsame, widerrechtliche Zurückdrängen Flüchtender an der Grenze, um zu verhindern, dass diese Asylanträge stellen können. Daran soll Frontex direkt beteiligt sein.
Klar ist zweierlei: Befürworter:innen wie Gegner:innen wollen – auf dem Papier – eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Pushbacks und anderen Verletzungen der Menschenrechte. Und beide Seiten wollen nicht aus dem Schengen-Abkommen hinaus. Die Unterschiede liegen in der Bedeutung der Schweizer Mitgliedschaft in den Organen von Schengen: Für die Befürworter:innen kann die Schweiz mit der Übernahme der Verordnung weiter bei Frontex mitbestimmen, für die Gegner:innen bezahlt unser Land bei eingeschränktem Stimmrecht einen überproportionalen Anteil des Budgets von Frontex (siehe Abstimmungsbroschüre des Bundes).
Im Kern liegt die unterschiedliche Sichtweise bei der Beurteilung der gegenwärtigen Verstösse von Frontex gegen die Menschenrechte: Wie umfassend, wie systematisch sind sie? Und wie gross ist das Vertrauen darauf, dass sie sich – gerade dank der neuen Grundrechtsbeauftragten – zuverlässig und vollständig unterbinden lassen? Die weiteren Punkte sind vernachlässigbar, gerade der finanzielle Beitrag.
Was bedeutet dies für die Bürger:innen beim Abwägen von Ja oder Nein? Auf diese zwei Punkte kommt es an:
- Für Frontex bedeutet faktisch ein Nein der Schweiz 37 Millionen und 40 Fachpersonen weniger pro Jahr. Es ist also fraglich, wie gross der Hebel der Schweiz tatsächlich ist, um Anpassungen an der Arbeitsweise von Frontex zu erzielen.
- Symbolisch könnte ein Nein wegen seiner Sorge um die Menschenrechte die Position der neuen Grundrechtsbeauftragten stärken und dazu führen, dass innen- und europapolitisch der Sorge um die Menschenrechte mehr Aufmerksamkeit zukommt und eine neue Debatte lanciert wird. Das würde die Flüchtenden besser schützen und das Schengen-Recht konsequenter umsetzen.
Die SBAA hält diese wenigen, aber relevanten Differenzen für wichtig genug, Nein zu sagen. Um konsequent zu sein. Um auch als kleines Land die Stimme zu erheben. Um die Chance, die uns Bürger:innen die direkte Demokratie mit dem Referendumsrecht ermöglicht, zu nutzen. Wer weiss, wie unsere Nachbar:innen entscheiden würden, wenn sie das Recht dazu hätten?