«Miłosz» und seine Ehefrau sind aus Polen und beantragten in der Schweiz eine Niederlassungsbewilligung (C‑Ausweis). «Miłosz» doktoriert an einer Schweizer Universität und wurde nach einer Sprachprüfung als Dolmetscher bei den kantonalen Justizbehörden zugelassen. Seine Ehefrau hat ihre Dissertation auf Deutsch geschrieben und leitet Integrationskurse in der Schweiz. Trotz ihres hohen Sprachniveaus verlangte der Einwohnerdienst vom Ehepaar, dass sie innert einer Frist von zwei Wochen eine Sprachprüfung ablegen. Daraufhin reichte das Ehepaar zusätzliche Dokumente ein, die ihr Sprachniveau anhand von ihren beruflichen Aktivitäten aufzeigen. Trotzdem wurde ihnen erneut mitgeteilt, dass ihr Dossier nicht komplett sei und ihr Gesuch wahrscheinlich abgelehnt würde, wenn sie keine Sprachprüfung ablegten.
Am 1. Januar 2019 trat das revidierte AusländerInnen- und Integrationsgesetz (AIG) in Kraft – seither erhält nur noch eine Niederlassungsbewilligung, wer als integriert gilt und grundlegende Sprachkompetenzen nachweisen kann. Mündlich muss mindestens das Niveau A2 erreicht werden, schriftlich mindestens A1 (Art. 34 AIG, Art. 60 Abs. 2 VZAE). Angesichts dieser Anforderungen erscheint es absurd, dass vom polnischen Ehepaar Sprachnachweise verlangt und die Sprachkompetenzen von den zuständigen Behörden derart streng beurteilt werden.
Die Sprache spielt auch beim Familiennachzug eine wichtige Rolle, wie Erfahrungen von Rechtsberatungsstellen zeigen. Ehegatten und Kinder unter 18 Jahren von Personen mit einer ausländerrechtlichen Bewilligung, die via Familiennachzug in die Schweiz kommen möchten, müssen sich neu schon vor der Einreise für einen Sprachkurs anmelden (Art. 43 AIG, Art. 44 AIG). Betroffene sehen sich somit gezwungen, die Kurskosten vor der Einreise zu bezahlen, ohne zu wissen, ob der Familiennachzug bewilligt wird und wann sie in die Schweiz einreisen dürfen. Wird der Familiennachzug verweigert, haben sie das Geld verloren. Die SBAA fordert, dass die Kursanmeldung bzw. der Sprachnachweis erst erbracht werden sollte, wenn alle anderen Bedingungen für den Familiennachzug erfüllt sind.
Im Rahmen des revidierten AIG werden auch die Integrationskriterien stärker gewichtet. Um die Kriterien der Integration zu erfüllen, müssen betroffene Personen folgende Anforderungen erfüllen: Sprachkompetenz, Teilnahme am Wirtschaftsleben oder Bildungswesen, Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und Respektierung der Werte der Bundesverfassung (Art. 58a AIG). Bei „besonderem Integrationsbedarf“ gemäss Integrationskriterien können die zuständigen Behörden als neues Instrument die Erteilung und die Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen mit sog. Integrationsvereinbarungen verbinden (Art. 43 Abs. 4 AIG). Wird die Integrationsvereinbarung von den Betroffenen ohne entschuldbaren Grund nicht eingehalten, hat dies einschneidende Konsequenzen: Die Aufenthaltsbewilligung kann widerrufen werden (Art. 62 Abs. 1 AIG). Auch die Niederlassungsbewilligung kann neuerdings, wenn die Integrationskriterien nicht erfüllt sind, zurückgestuft und durch eine Aufenthaltsbewilligung ersetzt werden (Art. 63 Abs. 2 AIG).
Die Finanzen werden bei den Integrationskriterien ebenfalls stärker ins Zentrum gerückt. Schon vor der Gesetzesrevision hatte die SBAA Fälle dokumentiert, in welchen Personen trotz unverschuldetem Sozialhilfebezug unrechtmässig die Aufenthaltsbewilligung entzogen wurde (Fallnr. 322, 320 und 251). Für die Niederlassungsbewilligung galt jedoch, dass Ausländer*innen, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhielten, die Bewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug nicht mehr entzogen werden konnte (Art. 63 Abs. 2 AuG). Dieser zeitliche Rahmen wurde mit der Gesetzesrevision aufgehoben. Neu müssen die Sozialämter auch Ausländer*innen, die eine Niederlassungsbewilligung besitzen, seit mehr als 15 Jahren in der Schweiz sind und deren Sozialhilfebezug einen bestimmten Betrag erreicht hat, unaufgefordert den Migrationsbehörden melden (Art. 82b VZAE und Weisung). Wie sich dies in Verbindung mit der Möglichkeit der Rückstufungen auf Betroffene auswirkt, zeigt folgender Fall:
«Ardit» lebt seit über 20 Jahren in der Schweiz. Gemäss Arztzeugnis ist er aufgrund von Unfällen und Operationen nach ca. 30-jähriger Erwerbstätigkeit für mittelschwere und schwere Arbeiten zu 100% arbeitsunfähig. Trotzdem hat «Ardit» keinen Anspruch auf eine IV-Rente und wird sozialhilferechtlich unterstützt. 2019 teilte ihm die kantonale Migrationsbehörde in einer Verfügung mit, dass er aufgrund von Schulden und Sozialhilfebezug die Integrationskriterien nicht mehr erfülle. Seine Niederlassungsbewilligung wurde widerrufen und auf eine „an Bedingungen verknüpfte Aufenthaltsbewilligung“ zurückgestuft. Damit seine Aufenthaltsbewilligung nach einem Jahr verlängert wird, darf «Ardit» nun keine neuen Betreibungen generieren, muss sich bemühen bestehende Schulden abzubauen, sich um eine Anstellung kümmern und umgehend einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Ob «Ardit» unter diesen Umständen innerhalb von einem Jahr die Bedingungen erfüllen kann, ist fraglich. Dass Personen wie «Ardit», die schon seit über 20. Jahren in der Schweiz leben, potentiell die Schweiz verlassen müssen, ist unhaltbar und unverhältnismässig.
Die SBAA kritisiert, dass die Integrationskriterien unverhältnismässig streng angewendet werden. Neben punktuellen Verbesserungen enthält das revidierte Gesetz etliche Verschärfungen. Dies hat zur Folge, dass Personen, die schon sehr lange in der Schweiz wohnen und über hohe sprachliche Kompetenzen verfügen, unnötige Hürden auferlegt werden. Die Gesetzesrevision führt zu einer starken Verunsicherung der Betroffenen. Der Aufenthalt von Personen, die keinen Schweizer Pass besitzen, kann trotz gelungener Integration auch nach jahrelangem Leben in der Schweiz noch unsicher sein. Im schlimmsten Fall können Betroffene sogar nach 20 Jahren ihren Aufenthaltstitel verlieren. Für einen Rechtsstaat wie die Schweiz ist ein solcher Umgang mit Personen ohne Schweizer Pass unwürdig.