Nach 40 Jah­ren in der Schweiz – Frau wird aus­ge­schafft, obwohl ihre Kin­der und Enkel­kin­der in der Schweiz leben

Das Bun­des­ge­richt hat ent­schie­den: Eine Frau mit tür­ki­schen Wur­zeln, wel­che seit 1983 in der Schweiz lebt, muss das Land verlassen

Die öffent­li­chen Inter­es­sen über­wie­gen die pri­va­ten Inter­es­sen auf­grund des lang­jäh­ri­gen Sozialhilfebezugs

Mit Urteil vom 27. Novem­ber 2023 ent­schied das Bun­des­ge­richt als letz­te inner­staat­li­che Instanz: A.____ muss nach 40 Jah­ren in der Schweiz, das Land ver­las­sen und ihre Kin­der und Enkel­kin­der zurück­las­sen. Im Jahr 1983 reis­te A.____ ihrem dama­li­gen Ehe­mann von der Tür­kei in die Schweiz nach. In der Zeit nach der Ankunft küm­mer­te sie sich haupt­säch­lich um die drei gemein­sa­men und in der Schweiz gebo­re­nen Kin­der. Im Jahr 2006 kam es zur Tren­nung von ihrem Mann, der danach die Zah­lung der Unter­halts­bei­trä­ge ver­wei­ger­te, wes­halb A.____ von da an Sozi­al­hil­fe bezog.

Seit 1989 besass A.____ eine Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung, wel­che sie alle fünf Jah­re ver­län­gern konn­te – bis im Juli 2020. Eine erneu­te Ver­län­ge­rung wur­de vom Migra­ti­ons­amt Solo­thurn nicht mehr bewil­ligt. Der Ent­scheid wur­de auch vom Solo­thur­ner Ver­wal­tungs­ge­richt gestützt, wor­auf­hin A.____ das Urteil wei­ter an das Bun­des­ge­richt zog.

Trotz der lan­gen Anwe­sen­heit in der Schweiz wies auch das Bun­des­ge­richt die Beschwer­de ab, mit der Begrün­dung, dass A.____ weder sprach­lich, kul­tu­rell, noch wirt­schaft­lich inte­griert sei. Es bestehe «ein gewich­ti­ges öffent­li­ches Inter­es­se am Wider­ruf der Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung». Dies vor allem, weil A.____ wäh­rend 17 Jah­ren «eine hohe Sum­me an Sozi­al­hil­fe­gel­dern bezo­gen habe». Sie habe sich auch «nicht hin­rei­chend bemüht, sich zu inte­grie­ren und von der Sozi­al­hil­fe zu lösen». Die Abhän­gig­keit der Sozi­al­hil­fe sei daher selbst­ver­schul­det. Auch ihre neu­ro­psych­ia­tri­sche Erkran­kung und ihre depres­si­ven Stö­run­gen sei­en kein Grund für einen Här­te­fall. Eine Arbeits­un­fä­hig­keit auf­grund der genann­ten gesund­heit­li­chen Pro­ble­me sei näm­lich – trotz eines psych­ia­tri­schen Gut­ach­tens, wel­ches eine 100%-ige Arbeits­un­fä­hig­keit fest­stellt – nicht ausgewiesen.

Auch die Tat­sa­che, dass ihre drei mitt­ler­wei­le erwach­se­nen Kin­der und Gross­kin­der in der Schweiz leben, ände­re nichts dar­an, dass das öffent­li­che Inter­es­se das pri­va­te über­wie­ge. Das Bun­des­ge­richt fügt hier­zu an, dass es A.____ schliess­lich immer noch mög­lich sei über elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel mit ihren Kin­dern und Enkel­kin­dern in Kon­takt zu blei­ben. A.____ sei zudem nach wie vor mit ihrem Hei­mat­land ver­bun­den, weil sie dort immer ihre Feri­en ver­bracht habe. Auch wenn A.____ gemäss eige­nen Aus­sa­gen seit dem Tod ihrer Eltern kei­ne per­sön­li­chen Kon­tak­te mehr in der Tür­kei pfle­ge, sei es ihr gemäss Bun­des­ge­richt den­noch mög­lich, Fuss zu fas­sen. Eine Rück­kehr in die Tür­kei sei also zumut­bar und verhältnismässig.

Unver­hält­nis­mäs­si­ge Inter­es­sen­ab­wä­gung und Ver­let­zung des Rechts auf Fami­lie und des Diskriminierungsverbotes

Die SBAA ist über die Inter­es­sen­ab­wä­gung in die­sem Fall sehr erstaunt und erach­tet die­se als nicht umfas­send genug. Bei der Auf­he­bung der Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung sind ins­be­son­de­re die Dau­er der Anwe­sen­heit, das Alter zum Zeit­punkt der Ein­rei­se, die fami­liä­ren Ver­hält­nis­se, die Ursa­chen des Sozi­al­hil­fe­be­zugs sowie die Wie­der­ein­glie­de­rungs­chan­cen im Her­kunfts­staat mass­geb­li­che Kri­te­ri­en für die Abwä­gung zwi­schen den Inter­es­sen der betrof­fe­nen Per­son und den öffent­li­chen Inter­es­sen (vgl. BGE 144 I 266 E. 3.7; BGE 2C_40/2023 vom 31. Juli 2023 E. 4.2; BGE 2C_716/2021 vom 18. Mai 2022 E. 3.2.1). Die Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung eines:r Ausländers:in, die sich seit lan­ger Zeit in der Schweiz auf­hält, soll nur mit beson­de­rer Zurück­hal­tung wider­ru­fen wer­den (Urtei­le 2C_836/2022 vom 22. März 2022 E. 4.2; 2C_782/2019 vom 10. Febru­ar 2020 E. 3.1). Im kon­kre­ten Fall spre­chen sämt­li­che Kri­te­ri­en – aus­ser der Sozi­al­hil­fe­be­zug von A.____ – für die Ver­län­ge­rung der Niederlassungsbewilligung.

Nun muss A.____, trotz ihrer über­aus lan­gen Anwe­sen­heit von 40 Jah­ren und ihrer engen fami­liä­ren Bezie­hun­gen zu ihren Kin­dern und Enkel­kin­dern, die Schweiz ver­las­sen. Dass A.____ nun über elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel den Kon­takt auf­recht­erhal­ten kön­ne, ist eine anmas­sen­de Aus­sa­ge und stellt kei­ne genü­gen­de Recht­fer­ti­gung der Ver­let­zung des Rechts auf ein Pri­vat- und Fami­li­en­recht (Art. 8 EMRK) dar. Zudem ist zu beto­nen, dass A.____ im Alter von 19 Jah­ren in die Schweiz reis­te und dann ihr gesam­tes Erwach­se­nen­le­ben hier ver­brach­te. Gemäss ihren eige­nen Anga­ben, pflegt sie kei­ne per­sön­li­chen Kon­tak­te mehr in der Tür­kei – was bei einem der­art lan­gen Auf­ent­halt in der Schweiz nach­voll­zieh­bar ist. Es ist kaum mög­lich für A.____ unter die­sen Umstän­den und dem Fakt, dass A.____ weder eine Aus­bil­dung noch beruf­li­che Erfah­run­gen hat, in der Tür­kei Fuss zu fas­sen. Auch aus frau­en­recht­li­cher Sicht ist der Ent­scheid stos­send. A.____ küm­mer­te sich allei­ne um die drei gemein­sa­men Kin­der. Es kann unter die­sen Umstän­den nicht per se erwar­tet wer­den, dass A.____ neben­her eine Aus­bil­dung absol­viert oder einer Erwerbs­tä­tig­keit nach­geht. Die aus­blei­ben­den Unter­halts­zah­lun­gen nach der Tren­nung des Ehe­man­nes, die feh­len­de Aus­bil­dungs­mög­lich­keit der A.____ auf­grund der Care-Arbeit zuhau­se sowie auch ihre gesund­heit­li­chen Pro­ble­me, erschwe­ren die Arbeits­su­che enorm. Der Ent­scheid des Bun­des­ge­rich­tes stellt eine Bestra­fung für A.____ als Frau und Mut­ter und eine Ver­let­zung des Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bots (Art. 14 EMRK) dar.