Das schweizerische Einbürgerungsverfahren verlangt von den Gesuchsteller:innen, dass sie verschiedene Voraussetzungen erfüllen. Wie bereits am Podium in St. Gallen diskutiert wurde, sind diese teilweise nicht nur schwierig zu erfüllen, sondern auch schwierig zu überprüfen. Eines dieser Kriterien ist die Respektierung der Werte der Bundesverfassung (BV), die für eine „erfolgreiche Integration“ erforderlich ist (Art. 12 Abs. 1 lit. b BüG). In Teil 3 der Serie analysiert die SBAA dieses Kriterium.
Die Bundesverfassung ist sehr umfangreich. Welche ihrer Werte für die Einbürgerung massgebend sind, ist in der Verordnung zum Bürgerrechtsgesetz (BüV) festgehalten. Diese und werden im Folgenden kurz geschildert und kritisch beleuchtet. Anschliessend erfolgt eine Würdigung, ob/wie sich die Respektierung der BV-Werte als Einbürgerungsvoraussetzung eignet.
Respektierung der rechtsstaatlichen Prinzipien und der freiheitlich demokratischen Grundordnung (Art. 5 lit. a BüV)
Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden als zentrale Werte der Schweiz angesehen. Ein Verstoss gegen diese Prinzipien kann somit als «mangelhafte» Integration gewertet werden. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass die BV selbst widersprüchliche Werte beinhaltet: So gelten gemäss BV z.B. einerseits die Rechtsgleichheit und die Glaubens- und Gewissensfreiheit, andererseits ist in der BV das Minarettverbot verankert, das gegen erstere verstösst. Diverse Sachverhalte welche als Verstoss gegen rechtsstaatliche Prinzipien gewertet werden könnten, werden zudem bereits von der Einbürgerungsvoraussetzung des Beachtens der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (Art. 4 BüV) erfasst. Wenn beispielsweise ein:e Gesuchsteller:in eine schwere Körperverletzung oder Tötung begeht, dann wird sie strafrechtlich verfolgt, weil er/sie gegen die öffentliche Sicherheit verstossen hat. Das Kriterium der Respektierung der freiheitlich demokratischen Grundordnung kann deshalb nur von subsidiärer Bedeutung sein.
Respektierung der Grundrechte (Art. 5 lit. b BüV)
Von den Gesuchsteller:innen wird erwartet, dass sie u.a. die folgenden Grundrechte beachten: Gleichstellung von Mann und Frau, Recht auf Leben und persönliche Freiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Meinungsfreiheit. Diese Grundrechte gelten in erster Linie im Verhältnis zwischen den Bewohner:innen und dem Staat. Letzterer ist verpflichtet zu verhindern, dass staatliche Organe ungerechtfertigt in diese Rechte eingreifen. Folglich ist es fragwürdig, inwieweit aus ihnen Verpflichtungen für eine einzelne Person abgeleitet werden können.
Respektierung der Grundpflichten (Art. 5 lit. c BüV)
Die Grundpflichten umfassen den Besuch der obligatorischen Schule und den Militär- oder zivilen Ersatzdienst. In den Medien wurde beispielsweise mehrmals das Problem des Händeschüttelns als Respektsbekundung gegenüber Lehrpersonen und Mitarbeitenden thematisiert. Wenn beispielsweise ein Kind sich weigert, einer Lehrperson eines anderen Geschlechts die Hand zu schütteln, wird dies teilweise als Verletzung der BV-Werte angesehen. Das Händeschütteln ist jedoch nicht per se Teil der Schulpflicht. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Sitte oder eine Anstandsregel. Diese dürfen gemäss Titularprofessor Peter Uebersax nicht den Werten der BV gleichgesetzt werden (Peter Uebersax, 2020: „Die Respektierung der Werte der Bundesverfassung“). Folglich sollte die Ablehnung solcher Sitten und Bräuche keine Folgen für die Prüfung der Integration haben.
Rechtliche und philosophische Würdigung
Die Integration einer einbürgerungswilligen Person darf gemäss dem Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht als ungenügend erachtet werden, nur weil diese ein von der Mehrheit abweichendes Verhalten zeigt, sofern dieses Verhalten grundrechtlich geschützt ist und im Einklang mit den Werten der BV steht (Handbuch Bürgerrecht des SEM, Ziffer 321/124). Der Handlungsspielraum für diese Prüfung ist jedoch sehr gross. Peter Uebersax fehlt eine verbindliche Definition der „Werte der BV“. Deshalb sei fraglich, ob die Anforderung, die Werte der BV zu beachten, wenn kein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, nicht grundrechtswidrig und untauglich sei (Peter Uebersax, 2020: „Die Respektierung der Werte der Bundesverfassung“). Er rät, dieses Kriterium mit grösster Zurückhaltung anzuwenden.
Stefan Manser-Egli, Doktorand in Transnational Studies, geht noch einen Schritt weiter und qualifiziert dieses Wertekriterium als „Gesinnungskontrolle“. Dies habe in der Praxis zur Folge, dass beispielsweise nicht nur das Eingehen einer polygamen Ehe zur Verletzung der BV-Werte führe, sondern bereits deren Befürwortung. Auf diese Weise werde die Unterscheidung zwischen einer äusseren Handlung – das Eingehen einer polygamen Ehe – und einer inneren Haltung – die Befürwortung der Polygamie – verwischt. Daraus folge, dass bereits die Gesinnung der staatlichen Kontrolle unterliege, was grundsätzlich gegen die Meinungsfreiheit verstosse (Stefan Manser-Egli: „Liberalismus als Kulturkampf – Integration in die Wertegemeinschaft“, 2022, S. 124f.). Ausserdem ist Manser-Egli der Ansicht, dass Integration nicht kulturelle Assimilation verlangen darf. Im Gegenteil – ein liberaler Staat wie die Schweiz müsse die gesellschaftliche Vielfalt und den Wertepluralismus anerkennen. Der Wandel dieser Werte müsse durch demokratische Aushandlung auf Augenhöhe ermöglicht werden (Stefan Manser-Egli: „Liberalismus als Kulturkampf – Integration in die Wertegemeinschaft“, 2022, S. 128).
Auch die SBAA erachtet die Prüfung dieses Wertekriteriums als äusserst problematisch. Um die ernsthafte Respektierung der Werte zu überprüfen, können nicht nur äussere Handlungen, sondern müssten auch die inneren Wertvorstellungen begutachtet werden. Eine derartige Kontrolle der inneren Bekenntnisse würde jedoch eine rechtswidrige Gesinnungskontrolle bedeuten. Somit stellt sich die Frage, inwiefern dieses Kriterium tauglich ist, wenn es nicht auf rechtmässige Weise überprüft werden kann. Hinzu kommt, dass integrationshindernde Handlungen meist bereits als Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfasst werden – ein der Prüfung zugängliches Kriterium. Aus Sicht der SBAA ist das Kriterium der Respektierung der BV-Werte untauglich und sollte nicht mehr als Einbürgerungsvoraussetzung gelten.
Serie: Sind die Einbürgerungsvoraussetzungen noch zeitgerecht?
Teil 1: Ein Bürgerrecht – jedoch vielfältige Anforderungen, 27.04.2022
Teil 2: Strenges Einbürgerungsverfahren im Kanton St. Gallen, 04.07.2022