Dass bei der Berücksichtigung des Kindeswohls in der Schweiz Handlungsbedarf besteht, zeigten der vor einem Jahr von der SBAA veröffentlichte Fachbericht «Vernachlässigtes Kindeswohl» sowie die Diskussion verschiedener Fachleute am Podium der SBAA zum selben Thema im Juni 2021. Im Rahmen der losen Serie zum Thema «Verantwortung für die Einhaltung der Kinderrechte» wirft die SBAA in Teil 4 Licht auf die Problematik, dass Kinder und Jugendliche innerhalb der Schweiz und innerhalb des Systems «verloren» gehen (zur Frage der «verschwundenen» Minderjährigen aus Bundesasylzentren siehe Teil 2 der Serie).
Während unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) in der Regel Bezugspersonen im Rahmen der Betreuung haben, treffen Erwachsene und begleitete Kinder in Bundesasylzentren sowie in kantonalen Durchgangs- oder Nothilfezentren auf viele unterschiedliche Betreuungspersonen. Ein Bezugspersonensystem, wie es aus sozialen Einrichtungen (z.B. Kinder- und Jugendheimen, Wohngruppen, Psychiatrie) bekannt ist, existiert nicht. Damit ist auch niemand für den Informationsfluss zwischen den involvierten Akteur:innen zuständig. Auch das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) kritisiert im Evaluationsbericht über den Rechtsschutz und die Entscheidqualität im Asylverfahren vom 16. August 2021 den Informationsaustausch zwischen Rechtsvertreter:innen und weiteren Akteur:innen der Betreuung, Gesundheit, KESB, Schule, etc.
Therapie abgebrochen wegen Umplatzierung in anderes Zentrum
Welche Auswirkungen ein solch fehlender Informationsfluss haben kann, lässt sich am Arbeitsalltag von Psychotherapeutin Sandra Rumpel veranschaulichen. Sie ist in einer psychotherapeutischen Praxis tätig und Mitgründerin des Vereins «family-help». Rumpel und ihre Kolleg:innen von «family-help» behandeln geflüchtete Familien und Kinder, die sich in Zürich und Umgebung aufhalten. Im Rahmen dieser Arbeit sind sie laufend damit konfrontiert, dass Klient:innen Termine kurzfristig absagen oder nicht wahrnehmen, ohne zu wissen, warum.
Der Verein «family-help» behandelte «Martina» mit ihrem neun Monate alten Kind. Die Familie war zuvor aus ihrem Herkunftsland geflohen, nachdem ihr Dorf abgebrannt, einige Männer getötet und Frauen vergewaltigt wurden. Die Mutter war sehr verstört, oft innerlich abwesend und das Kind zeigte eine deutliche Bindungsstörung. Diese zeigte sich darin, dass sich das Kind bei der Mutter nicht sicher fühlte und die Interaktion zwischen Mutter und Kind dysfunktional und für die Entwicklung des Kindes gefährdend waren. Es wurde in Betracht gezogen, die Mutter und das Kind in eine Mutter-Kind-Einrichtung einzuweisen. Die Familie war bereits zu drei Terminen bei Sandra Rumpel in Therapie, bis sie plötzlich nicht mehr an die Therapiesitzungen kamen. Die Abklärungen von «family-help» ergaben, dass sie in ein anderes Zentrum im gleichen Kanton umplatziert worden waren. Auch nach mehreren Telefonaten mit Betreuenden im neuen Zentrum konnte die Familie nicht ausfindig gemacht werden.
Die Behandlung der Mutter und ihres Kindes im oben beschriebenen Fall wurde abrupt unterbrochen und eine nachhaltige Behandlung damit verunmöglicht. Dies ist höchst problematisch, da ein Vertrauensverhältnis für die psychologische und psychotherapeutische Behandlung zentral ist.
Gemäss Rumpel handelt es sich um ein strukturelles Problem: Niemand fühle sich bei einer Umplatzierung für die einzelnen Kinder und ihre Eltern verantwortlich. Es werde erwartet, dass die Betroffenen Änderungen ihres Aufenthaltsortes den behandelnden Therapeut:innen oder Psycholog:innen selber mitteilen. Besonders bei Familien mit Kindern kann dies jedoch nicht immer erwartet werden. Umplatzierungen geschehen oft kurzfristig, die Betroffenen werden nicht vorinformiert und verstehen nicht immer, weshalb sie umplatziert werden und wo ihre nächste Unterkunft sein wird.
Therapie unterbrochen wegen fehlendem Informationsfluss
Auch bei begleiteten Kindern müssen klare Abläufe und Zuständigkeiten geschaffen werden, um das Kindeswohl nicht zu gefährden.
«Aurelia» war schwanger, in einer Notunterkunft untergebracht und bei «family-help» in Behandlung. Da «Aurelia» an Schizophrenie litt, welche nach der Geburt zu Fremdgefährdung führen kann, wurde die regionale KESB eingeschaltet und vor der Geburt des Kindes eine Beistandschaft errichtet. «Aurelias» Beiständin, die Spitex und die Mütterberaterin besuchten sie abwechselnd täglich in der Notunterkunft. Alles war nach der Geburt des Kindes also sorgfältig aufgegleist, sodass eine mögliche Gefährdung des Kindes sofort hätte erkannt werden können. Eines Tages war «Aurelia» in der Unterkunft nicht mehr auffindbar. Gemäss den Betreuungspersonen hatte sie ein «Upgrade» erhalten: sie war in einem kantonalen Durchgangszentrum untergebracht worden. Weder die KESB noch «family-help» waren darüber informiert worden. Da die neue Unterkunft in einem anderen Bezirk lag, wurde eine andere KESB zuständig. Erst nach zwei Wochen erfuhr das Team, wohin «Aurelia» transferiert worden war. Es musste die neu zuständige KESB eingeschaltet werden. «Aurelia» hatte daher während drei Wochen keine regelmässige Begleitung, sie verlor ihre vertrauensvollen Kontakte, ohne zu wissen warum und war während dieser Zeit destabilisiert.
Würden alle involvierten Akteur:innen frühzeitig über mögliche Umplatzierungen informiert, könnten die bestehenden Ressourcen besser genutzt und die potentielle Gefährdung von Eltern und Kindern vermieden werden. Im obenstehenden Fall hätte die KESB informiert werden sollen, sodass ein lückenloser Handwechsel möglich gewesen wäre.
Neben der Problematik, dass eine begonnene Betreuung oder Behandlung nicht weitergeführt werden kann, können abrupte Abbrüche von psychotherapeutischer und psychologischer Behandlung gemäss Rumpel auch negative Konsequenzen für laufende Asylverfahren haben. Potentielle Traumata oder Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) können so beispielsweise nicht rechtzeitig diagnostiziert werden, was für einen Asylentscheid sehr wichtig sein kann.
Dass Personen im Schweizer System «verloren» gehen und dadurch therapeutische Behandlungen abgebrochen werden, gefährdet die Personen und führt zur Verschwendung von sowieso schon sehr knappen bzw. fehlenden Ressourcen. Die SBAA betrachtet es als unerlässlich, dass der Informationsfluss zwischen Akteur:innen «innerhalb» sowie «ausserhalb» des Asylverfahrens verbessert wird und dass Zuständigkeiten besser definiert werden. Auch bei begleiteten Kindern muss die Schweiz ihren Verpflichtungen aus der Kinderrechtskonvention nachkommen. Dazu gehört auch, lückenlose psychotherapeutische oder psychologische Betreuung für Eltern und Kinder sicherzustellen.
Serie: Wer ist in der Schweiz für die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich?
Teil 1: Übergeordnetes Kindesinteresse – Aufsicht und Verantwortung, 30.3.2021
Teil 2: Wenn Kinder aus Bundesasylzentren verschwinden, 5.7.2021
Teil 3: Kindesschutzmassnahmen in Bundesasylzentren, 20.9.2021