Zahl­rei­che Bau­stel­len beim Kindeswohl

Die ver­gan­ge­ne Podi­ums­dis­kus­si­on der SBAA zum Kin­des­wohl im Asyl- und Aus­län­der­recht zeigt: Der Hand­lungs­be­darf ist gross. 

Am Anlass der Schwei­ze­ri­schen Beob­ach­tungs­stel­le für Asyl- und Aus­län­der­recht (SBAA) vom 16. Juni 2021 dis­ku­tier­ten Fach­per­so­nen über das Kin­des­wohl. Rund 80 Per­so­nen nah­men teil – die einen vor Ort im Kon­gress­zen­trum Kreuz in Bern, die ande­ren via Live-Strea­ming. Aus­gangs­punkt für das Podi­um war der Fach­be­richt «Ver­nach­läs­sig­tes Kin­des­wohl – Min­der­jäh­ri­ge in asyl- und aus­län­der­recht­li­chen Ver­fah­ren» (2020) der SBAA. Der Fach­be­richt hat brei­tes Echo aus­ge­löst und ist laut Mar­tin Bucher im Staats­se­kre­ta­ri­at für Migra­ti­on (SEM) in der Asyl­re­gi­on Zürich Pflicht­lek­tü­re. Eini­ge der im Bericht doku­men­tier­ten Fall­bei­spie­le erläu­ter­te Noé­mi Weber, Geschäfts­lei­te­rin der SBAA, in einem Input­re­fe­rat und zeig­te auf, dass das Kin­des­wohl oft nicht berück­sich­tigt wird – obwohl die Schweiz gemäss der UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on (KRK) dazu ver­pflich­tet ist.

In der anschlies­sen­den Debat­te wur­de zu Fra­gen rund um das beschleu­nig­te Asyl­ver­fah­ren, das Recht auf Anhö­rung, die Zustän­dig­kei­ten für und Finan­zie­rung von Kin­des­schutz­mass­nah­men, Unter­brin­gung, Trau­ma­ta und die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung von migrier­ten und geflüch­te­ten Kin­dern und Jugend­li­chen dis­ku­tiert. Die Podi­ums­gäs­te deck­ten unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven ab: Meret Adam ist Rechts­an­wäl­tin und arbei­tet für das HEKS im Bun­des­asyl­zen­trum Basel; Mar­tin Bucher ist Chef der Asyl­re­gi­on Zürich beim SEM; Yvonne Feri ist Natio­nal­rä­tin und Prä­si­den­tin der Stif­tung «Kin­der­schutz Schweiz»; San­dra Rum­pel ist Psy­cho­the­ra­peu­tin und Mit­be­grün­de­rin des Ver­eins «fami­ly help». Mode­riert wur­de das Podi­um von Inés Mateos.

Beschleu­nig­tes Asylverfahren

Die Berück­sich­ti­gung des Kin­des­wohls im neu­en, beschleu­nig­ten Asyl­ver­fah­ren sieht Mar­tin Bucher vom SEM als gros­se Her­aus­for­de­rung. Das beschleu­nig­te Ver­fah­ren sei nicht für jede Kon­stel­la­ti­on das rich­ti­ge Ver­fah­ren, und ent­schleu­ni­gen brin­ge manch­mal mehr als beschleu­ni­gen. Auch Rechts­ver­tre­te­rin Meret Adam gab zu beden­ken, dass das beschleu­nig­te Ver­fah­ren sehr schnell sei. Oft wür­den ihnen z. B. die Ein­schät­zun­gen von medi­zi­ni­schen Fach­per­so­nen feh­len, weil der Zugang zu die­sen nicht genü­gend schnell erfolge.

Recht auf Anhörung

Beim Recht auf Anhö­rung im Asyl­ver­fah­ren führ­te das SEM laut Mar­tin Bucher soeben schweiz­weit einen neu­en Pro­zess­schritt ein: Auch beglei­te­te Kin­der unter 14 Jah­ren hät­ten nun die Mög­lich­keit, ange­hört zu wer­den. Meret Adam bedau­er­te, dass die Anhö­run­gen von Kin­dern unter 14 Jah­ren wei­ter­hin nur statt­fin­den, wenn dies ein Kind aus­drück­lich wünscht. Sie hät­te sich den umge­kehr­ten Grund­satz gewünscht: Alle Kin­der sol­len sys­te­ma­tisch ange­hört wer­den – aus­ser sie ver­zich­ten oder es ent­spricht nicht dem Kin­des­wohl. Auch Yvonne Feri äus­ser­te Unver­ständ­nis dar­über, dass Kin­der unter 14 Jah­ren nicht ange­hört wer­den und ver­glich mit ande­ren Rechts­ge­bie­ten, in denen eine sys­te­ma­ti­sche Anhö­rung von Kin­dern ab 11 Jah­ren der Norm entspricht.

Finan­zi­el­le Fragen

Dis­ku­tiert wur­den auch Fra­gen rund um die Finan­zie­rung: Mar­tin Bucher ver­wies auf das Betreu­ungs­kon­zept von Unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen Asyl­su­chen­den (UMA), wel­ches nun umge­setzt wer­de. Die Eva­lua­ti­on der Zür­cher Hoch­schu­le für Ange­wand­te Wis­sen­schaf­ten (ZHAW) dazu habe gezeigt, was bei der Betreu­ung mög­lich wäre. In der Pra­xis stel­le sich jedoch immer auch die Fra­ge nach finan­zi­el­len Res­sour­cen dafür. Natio­nal­rä­tin Yvonne Feri war der Ansicht, man sol­le für die Kin­der schau­en, dann kön­ne man in Zukunft viel spa­ren. Die­se Mei­nung teil­te auch San­dra Rum­pel: Jeder Fran­ken, der inves­tiert wer­de, kom­me um das Zehn­fa­che zurück. Nicht nur die Situa­ti­on in den BAZ, auch kan­to­na­le Struk­tu­ren und das Not­hil­fe-Sys­tem sei­en äus­serst pro­ble­ma­tisch. Es gebe einen deut­li­chen Zwei-Klassen-Kindesschutz.

Zustän­dig­kei­ten SEM und KESB

Aus der Dis­kus­si­on wur­den auch Män­gel bei der Zustän­dig­keit der KESB sicht­bar. Laut Mar­tin Bucher ist die Zustän­dig­keit der KESB eine gros­se Her­aus­for­de­rung, da die­se kan­to­nal oder kom­mu­nal orga­ni­siert sind, wäh­rend die Bun­des­asyl­zen­tren vom Bund betrie­ben wer­den. Bei unbe­glei­te­ten Kin­dern im BAZ fühlt sich teil­wei­se kei­ne Kin­des­schutz­be­hör­de zustän­dig und es kann wäh­rend der Zeit im BAZ kein*e Beiständ*in ein­ge­setzt wer­den. Das SEM sei dar­an, Lösun­gen mit den zustän­di­gen Behör­den zu fin­den. Auch aus Sicht von Meret Adam braucht es eine Zusam­men­ar­beit mit den KESB sowie Ver­net­zung und kla­re Abläufe.

Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Akteur*innen

Psy­cho­the­ra­peu­tin San­dra Rum­pel schil­der­te aus ihren Erfah­run­gen, dass sich Fach­per­so­nen im Gesund­heits­we­sen gewohnt sei­en, ver­netzt zu arbei­ten. Seit sie sich jedoch auf jun­ge Geflüch­te­te spe­zia­li­sier­ten, erleb­ten sie eine Frag­men­tie­rung: Bei­spiels­wei­se «ver­lie­ren» sie aus admi­nis­tra­ti­ven Grün­den immer wie­der Per­so­nen, die bei ihnen in Behand­lung sind, da sie plötz­lich nicht mehr wis­sen, wo sich die­se befin­den. San­dra Rum­pel kri­ti­siert, dass es kei­ne kla­ren Abläu­fe gebe. Sie wünscht sich des­halb eine bes­se­re Zusam­men­ar­beit und Ver­net­zung der ver­schie­de­nen Akteur*innen. Schliess­lich habe das Kin­des­wohl obers­te Priorität.

Sen­si­bi­li­sie­rung und Schulung

Fra­gen rund um die Sen­si­bi­li­sie­rung für das The­ma Kin­des­wohl wer­den gemäss Mar­tin Bucher sowohl im SEM als auch bei wei­te­ren Akteur*innen wie Betreu­ung und Sicher­heit the­ma­ti­siert. Mar­tin Bucher räum­te aber ein, dass die Sen­si­bi­li­tät für die­ses The­ma noch nicht über­all ange­kom­men sei und ver­sprach, wei­ter dar­an zu arbei­ten. Es brau­che gesamt­schwei­ze­ri­sche, für alle BAZ gel­ten­de Stan­dards. Auch Yvonne Feri beton­te, dass Schu­lun­gen not­wen­dig sei­en, denn seit Jah­ren wer­de die Schweiz immer wie­der von inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen gerügt, dass sie die Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on nicht umsetze.

Trau­ma­ta und psy­chi­sche Gesundheit

San­dra Rum­pel mach­te auch auf trau­ma­ti­sier­te Kin­der und Jugend­li­che auf­merk­sam. Seit 20 Jah­ren wis­se man, dass das Traum­age­dächt­nis nicht so funk­tio­nie­re wie die Kri­te­ri­en, wel­che die Schweiz im Asyl­ver­fah­ren an das Erfor­der­nis der Glaub­wür­dig­keit stel­le (sie­he auch Fach­be­richt der SBAA «Glaub­haf­tig­keit im Asyl­ver­fah­ren», 2019). Das müs­se geän­dert werden.

San­dra Rum­pel for­der­te zudem, dass bei der Ankunft der asyl­su­chen­den Per­so­nen ein psy­cho­lo­gi­sches Scree­ning gemacht wird, genau­so wie die soma­ti­sche Gesund­heit bereits abge­klärt wür­de. Gemäss Stu­di­en sei­en 50–70% der geflüch­te­ten Kin­der und Jugend­li­chen trau­ma­ti­siert, das müs­se unbe­dingt berück­sich­tigt wer­den. Es gebe eini­ger­mas­sen schnel­le Ver­fah­ren, die zumin­dest Hin­wei­se geben, ob ein Kind trau­ma­ti­siert sein könn­te. Laut Meret Adam kann die Rechts­ver­tre­tung zwar rela­tiv schnell einen Antrag für eine Abklä­rung stel­len, das Ver­fah­ren gehe aber trotz­dem wei­ter und es gebe kei­ne Ent­schleu­ni­gung. Häu­fig feh­le die Mög­lich­keit, ein lang­sa­me­res, erwei­ter­tes Ver­fah­ren ein­zu­lei­ten und bei UMA wür­den oft kei­ne kin­der- und jugend­psy­cho­lo­gi­schen Abklä­run­gen ein­ge­lei­tet wer­den, bevor das Alter abschlies­send geklärt sei.

Grund­sätz­lich gebe es bei Kinder-Psychotherapeut*innen und ‑Psychiater*innen einen gros­sen Fach­kräf­te­man­gel, wes­halb die War­te­fris­ten für eine Abklä­rung oder eine The­ra­pie sehr lan­ge sei­en. Eine The­ra­pie für Geflüch­te­te ohne Sozi­al­ar­bei­ten­de und ohne Dol­met­schen­de sei unmög­lich und die Kran­ken­kas­sen wür­den sol­che The­ra­pien nicht bezah­len, wes­halb San­dra Rum­pel und ihre Kolleg*innen bei ihrer Arbeit auf Spen­den ange­wie­sen sei­en. Natio­nal­rä­tin Yvonne Feri sag­te, das kön­ne nicht sein – sie wer­de dies in ihrer poli­ti­schen Arbeit aufnehmen.

Fazit

Wie Chris­toph Rei­chen­au, Vor­stands­mit­glied der SBAA, in sei­nem Schluss­wort aus­führ­te, zeig­te die Podi­ums­dis­kus­si­on, dass sehr vie­les im Argen liegt. Dies in einem Bereich, in dem Per­so­nen in der staat­li­chen Obhut sind, was zu beson­de­rem Schutz ver­pflich­tet. Auf­grund der Dis­kus­si­on am Podi­um hat die SBAA zahl­rei­che Bau­stel­len iden­ti­fi­ziert, bei denen das SEM, die Kan­to­ne sowie die Poli­tik Ver­ant­wor­tung über­neh­men müs­sen. Dass der Begriff des Kin­des­wohls im Asyl­ge­setz kom­plett fehlt, ist höchst pro­ble­ma­tisch. Im Dia­log mit Behör­den und Poli­tik wird sich die SBAA wei­ter­hin dafür ein­set­zen, dass das Kin­des­wohl in allen Berei­chen des Asyl- und Aus­län­der­rechts stets vor­ran­gig ist.

 

Ein­drü­cke der Podiumsdiskussion:
(Fotos: Yael Hecke)